Doppelkinnbonus: Gesamtausgabe (German Edition)
Asyl für Ausgestoßene vor. Sicher war es der richtige Platz, um Familienurlaub zu machen, zu entspannen oder romantische Tage zu zweit zu verbringen, aber was genau war es, das ich hier zu finden hoffte? Ablenkung? Ruhe? Wie konnte ich an einem Ort Ruhe suchen, wenn ich selbst die Ruhelosigkeit ständig bei mir trug? Und wie sollte es möglich sein, mich von den Gedanken an Piet abzulenken, wenn der Grund für meinen Aufenthalt die Arbeit für sein Projekt war? Für seine Band, sein Album!
Durch die offene Tür drang eine milde Maibrise herein und durchzog, einem tiefen Atemzug ähnlich, den Eingangsbereich des Hauses. Ich nahm das Rauschen des nahen Wassers wahr, hier und da den dumpfen Schrei einer Möwe. Eine Idylle, wie ich sie herbeigesehnt hatte, und doch kam sie mir in diesem Moment bedrückender vor als jeder Tag, den ich in den letzten Jahren in der Stadt verbracht hatte.
Mit einem leichten Fußtritt schloss ich die Tür hinter mir und ließ mich auf die kleine Rattanbank fallen. Wie die Wände war auch die Einrichtung in dezenten Weiß- und Lavendeltönen gehalten. Zwischen der Sitzbank und einem Sessel stand ein kleiner runder Tisch, darauf eine gläserne Vase mit frischem Flieder, weiße und violette Blüten, die den Raum mit einer Ahnung von Sommer erfüllten.
Und wenn es doch eine blöde Idee gewesen war, der Arbeit am Album zuzustimmen? Nach mittlerweile vier Jahren als professionelle Songtexterin konnte ich es mir schließlich aussuchen, welche Aufträge ich annahm und auf welche ich lieber verzichtete.
Doch noch bevor ich die Frage zu Ende denken konnte, wusste ich, dass es keine Alternative gab. Ganz gleich, was zwischen Piet und mir geschehen war, egal, welche Illusionen im Laufe der letzten Monate zerbrochen waren – ich musste es tun. Kein Album der Jungs war bisher ohne mich entstanden; außerdem hatte ich Angst, durch das Ablehnen ihrer Bitte den Kontakt zu Piet komplett abzubrechen. So sehr ich mich auch dagegen sträubte, ich brauchte sie, die Möglichkeit, dass einer der blinkenden Umschläge in meinem E-Mail-Postfach von ihm war, die Gewissheit, dass hin und wieder sein Name auf dem Display meines Handys erschien, wenn auch nur aus sogenannten beruflichen Gründen .
Das Vibrieren an meinem Oberschenkel durchzog mich wie ein unerwarteter Stromschlag. Hastig holte ich das Handy aus meiner Jackentasche. War es möglich, dass ...?
Nein, nur der tägliche Kontrollanruf meiner Mutter.
„Hallo Mama.
Ja, gerade eben. Es ist sehr schön.
Nein, da schaue ich vielleicht morgen vorbei. Heute will ich erst einmal in Ruhe mein Pensum feststecken.
Pensum.
Nein, PENSUM, Mama.
Ja, genau.
Hör mal, ich muss noch meine Sachen auspacken. Kann ich dich später zurückrufen?
Ich dich auch.“
Ich schob das Handy zurück in meine Jacke, während ich mich seufzend gegen die Lehne der Bank fallen ließ. Noch immer kreisten meine Gedanken um das Gespräch mit Piet. Dreimal hatte ich seine Bitte, mich zu treffen, abgelehnt. Beim vierten Mal, zwei Wochen war das inzwischen her, hatte ich ihm schließlich nachgegeben. Das kleine Café, das nur wenige Meter von dem Probenraum entfernt lag, in dem damals alles angefangen hatte, war hingegen mein Vorschlag gewesen.
Wehmütig rief ich mir seine Worte ins Gedächtnis.
„Ich weiß, dass die Sache damals sehr unglücklich ausgegangen ist. Aber du hast mir nie die Chance gegeben, dir alles in Ruhe zu erklären.“
„Weil es nichts zu erklären gab, Piet. Du hast deine Entscheidung getroffen, und daran gab es nichts mehr zu rütteln. Du warst mir keine Rechenschaft schuldig.“
„Doch, das war ich.“ Ja, das war er. Es war die Art von Rechenschaft, die verbindlicher ist als alle anderen. Das stillschweigende Erwarten als Reaktion auf stillschweigende Emotionen, die von stillschweigenden Menschen gelebt werden. Ein Stillschweigen, das nicht lauter sein könnte. Und eine Rechenschaft, die so unumgänglich ist wie der Drang, sie zu erwarten. Auch wenn das Stillschweigen kurz vorher zum ersten Mal durchbrochen worden war. Doch das war eine andere Geschichte.
„Alles, was die Band heute ist, ist sie nur durch dich, Tina. Du weißt, dass wir es nicht so mit Worten haben.“
„Ihr seid an dem Punkt, an dem ihr euch locker auch einen anderen Texter leisten könntet. Einen mit wesentlich mehr Erfahrung.“
„Wie können wir erwarten, dass uns jemand aus der Seele spricht, der uns nicht kennt? Du kennst uns, Tina. Du kennst mich. Vermutlich besser als
Weitere Kostenlose Bücher