Der Winterpalast
S pione bleiben normalerweise unsichtbar, außer sie werden enttarnt, oder sie treten freiwillig ans Licht der Öffentlichkeit. Die Ersteren waren so töricht, verräterische Spuren zu hinterlassen, die Letzteren haben ihre eigenen Gründe, sich zu offenbaren.
Vielleicht drängt es sie, ihre Geheimnisse zu beichten, weil sie die öde Bedeutungslosigkeit eines Lebens, von dem niemand etwas weiß als sie allein, nicht ertragen.
Oder vielleicht, weil sie warnen möchten.
Ich war das, was man eine »Zunge« nannte, eine wohlinformierte Quelle, die Geheimnisse preisgab, eine Informantin, der keine noch so leise geflüsterte Wahrheit entging. Ich wusste von ausgehöhlten Büchern, von doppelten Böden in Koffern, von Geheimgängen und Tapetentüren, ich verstand mich darauf, raffiniert versteckte Fächer in Schreibtischen zu finden, versiegelte Briefe zu öffnen und wieder so zu verschließen, dass sie vollkommen unversehrt aussahen. Wenn ich in ein fremdes Zimmer einbrach, bemerkte ich das Haar, das am Schloss klebte, und brachte es nachher wieder genau so an, wie ich es vorgefunden hatte. Kein Geheimnis der dunkelsten Nacht war vor mir sicher.
Ich bemerkte es, wenn Ohren und Wangen erröteten, wenn jemand bei einem Ball am Orchester vorbeischlenderte und ganz unauffällig ein Zettelchen in den Schalltrichter der Tuba fallen ließ, wenn Hände zu nervös in Taschen fassten, wenn zu häufig ein Juwelier oder eine Schneiderin in ein Haus kam. Ich wusste
von den ledernen Unterröcken, die prächtige Roben vor tröpfelndem Urin schützten, von Dienstmädchen, die blutige Lumpen im Garten vergruben, von Erstickungsanfällen und Todesängsten.
Ich konnte Angst nicht riechen, aber ich erkannte ihre Symptome: Herzrasen, geweitete Augen, zitternde Hände, aschfahle Haut. Ich bemerkte es, wenn das Gespräch ins Stocken geriet, wenn Schweigen eintrat. Ich hatte die Angst immer stärker werden sehen in Räumen, wo jedes leise Wort Argwohn erregte, wo jede Veränderung des Gesichtsausdrucks oder das Ausbleiben solcher Veränderungen beobachtet und vermerkt wurde.
Ich hatte gesehen, was Angst im Herzen eines Menschen anrichten kann.
Eins
1743-1744
I ch hätte sie warnen können, als sie in Russland ankam, diese kleine Prinzessin aus Zerbst, einem deutschen Städtchen, das gerade mal so groß ist wie der Sommergarten von Sankt Petersburg, dieses schmächtige Mädchen, das zur Kaiserin Katharina werden sollte.
Dieser Hof wird eine neue Welt für Sie sein, hätte ich ihr sagen können, schlüpfriger Boden. Lassen Sie sich nicht täuschen von freundlichen Blicken und schmeichelnden Reden, von all den großartigen Verheißungen. Es ist ein Ort, an dem Hoffnungen verkümmern und sterben, wo Träume zu Asche werden.
Sie hatte Sie auf Anhieb für sich eingenommen, unsere Kaiserin. Ihr ungekünsteltes Wesen, ihr freundlicher Händedruck, die Tränen, die sie abwischte, als sie Sie sah. Die Lebhaftigkeit ihrer Worte und Gesten, ihre erfrischende Art, sich über die Zwänge der Etikette hinwegzusetzen. »Wie freundlich und geradeheraus die Kaiserin Elisabeth Petrowna ist«, sagten Sie. Auch andere fanden das, viele andere. Aber Offenheit kann auch eine Maske sein, wie Ihre Vorgängerin viel zu spät erkannte.
Drei Jahre zuvor war unsere bezaubernde Kaiserin noch eine unverheiratete Prinzessin am Hof Iwans VI . und seiner Mutter gewesen, die als Regentin die Reichsgeschäfte führte, denn der Kaiser lag noch in Windeln gewickelt. Ein Verlobter Elisabeths war an den Pocken gestorben, andere Pläne waren durch politische Intrigen vereitelt worden, und es sah ganz so aus, als wären die Chancen der jüngsten Tochter Peters des Großen, auf den Thron zu gelangen, für alle Zeiten dahin. Die Einunddreißigjährige galt
als oberflächliches, flatterhaftes Geschöpf, dessen Gedanken ganz den Tanzschritten und Garderoben der jeweils aktuellen Ballsaison gewidmet waren, nur wenige setzten auf die Macht des väterlichen Bluts in ihren Adern und behielten sie im Blick.
Die Franzosen nennen sie auch »Elisabeth die Sanftmütige«, denn an dem Tag, bevor sie Iwan VI . den Thron raubte, schwor sie auf die Ikone des heiligen Nikolaus, des Wundertäters, dass unter ihrer Herrschaft kein Todesurteil vollstreckt werde. Und ihrem Wort getreu trat sie an dem Tag des Staatsstreichs den Soldaten der Garde, die drauf und dran waren, dem kleinen Zaren die Kehle durchzuschneiden, in den Weg. Sie nahm den greinenden Säugling aus seiner
Weitere Kostenlose Bücher