Dornen der Leidenschaft
Pferden mitnehmen konnten, ließen Santiagos Leichnam auf dem Boden liegen und verschwanden.
Bald darauf kamen andere an, die vom Tod des Verrückten gehört hatten, und plünderten das Haus. Schließlich war es leer, sogar die Brokatvorhänge an den Fenstern waren mitgenommen worden. Einzig und allein die große goldene Glocke entging dem Zugriff der Räuber. Sie war zu schwer, um von einem oder zwei Männern weggetragen zu werden. Eine Gruppe von Männern aus dem nahegelegenen Dorf glaubten, daß sie genau das Richtige für ihre Kirche sei. Beim Versuch, sie wegzubringen, gab sie aber so grauenerregende Töne von sich, daß die Männer sie entsetzt fallen ließen. Die Glocke brach durch den Boden des Dachgeschosses und blieb ein Stockwerk tiefer liegen. Von diesem Tag an berührte sie niemand mehr. Aber obwohl die Dorfbewohner wußten, daß es nicht möglich war, hörten sie die Angelusglocke in mondlosen Nächten läuten.
Im Lauf der nachfolgenden Jahrhunderte zogen andere Männer ins Herrenhaus ein und fanden dort einen ebenso entsetzlichen Tod wie Santiago. Dann wurde Esplendor vergessen, und nur ein paar alte Leute erinnerten sich noch an das verlassene, nur von bösen Geistern bewohnte Haus.
Wie Wachposten rahmten die großen Türme es immer noch ein, aber dem Haus näherte sich niemand mehr. Nur der Dschungel kam immer näher heran und nahm das Herrenhaus langsam wieder in Besitz. Schlingpflanzen und Büsche überwucherten die breite Auffahrt, Wurzeln sprengten Risse in die Wände, bis sie baufällig wurden und fast einstürzten.
Niemand war traurig über das Schicksal des einstmals stolzen Hauses, der ehemalige Erbauer war schon lange tot und seine Liebste, zu deren Andenken er es errichtet hatte, ebenfalls.
Jetzt, dreihundert Jahre später, im Jahre 1848 stand das große Haus immer noch. Sein Geist war noch immer unbesiegt. Als Denkmal einer lebenslangen Liebe ragte das Haus geheimnisvoll über den Dschungel hinweg und sah aus, als ob es nur schlafen und atemlos und hoffnungsvoll darauf warten würde, zu neuem Leben erweckt zu werden.
Und manchmal, in einer mondlosen Nacht, war noch immer die Angelusglocke zu hören …
2. KAPITEL
Madrid, Spanien, 1848
Rasiermesserscharfe Säbelklingen blitzten im Kerzenlicht auf. Und ebenso mörderisch glänzten die dunklen Augen der beiden Männer, die die Degen hielten.
Doña Catalina Aguilar de Rodriquez de Zaragoza, Marquesa de Llavero, saß zitternd auf einem Stuhl in einer Ecke des Raumes. Sie preßte ein Taschentuch auf den Mund, um ihre Angstschreie zu unterdrücken. Im nächsten Augenblick konnte entweder ihr Ehemann Don Manuel Vitorio de Zaragoza, Marqués de Llavero, oder ihr Sohn Don Salvador Domingo Rodriquez y Aguilar, Visconde Poniente, tot auf dem Perserteppich liegen, der den mit Marmorfliesen ausgelegten Boden bedeckte. Blut tropfte aus einer frischen Wunde im Arm ihres Sohnes und befleckte den schön gemusterten Teppich. Catalinas Mann lachte bösartig.
»Das erste Blut!« rief der Marqués triumphierend aus.
»Das ist das letzte Blut, das zählt, Don Manuel«, antwortete der Visconde kühl, während er sich mit seiner schwarzen Seidenkrawatte die Wunde verband und dabei seinen Gegner keinen Augenblick aus den Augen ließ, seinen Stiefvater, den er aus tiefstem Herzen verachtete und dem er nicht über den Weg traute.
» O Santa María, gebiete ihnen Einhalt, Timoteo. Bitte!« bat die Marquesa den einzigen weiteren Anwesenden in dem kleinen Salon.
»Wenn ich es nur könnte, Catalina«, erwiderte der weißhaarige Mann, Don Timoteo Yerbabuena, Conde de Fuente, verzweifelt. Er stützte sich steif auf seinen Stock und hatte einen Arm um Catalina gelegt. »Aber ich kann es nicht. Die beiden sind zu weit gegangen. Diesmal sind sie zu weit gegangen.«
»Und es ist alles mein Fehler!« beschuldigte sich die Marquesa leise.
Sie hatte sich wieder einmal dumm verhalten, unentschuldbar dumm – ihr Mann Manuel hatte sie ärgerlich angeschrien. Sie hatte ihn vor ihren Gästen lächerlich gemacht, hatte der Marqués eisig festgestellt, und alle außer Timoteo waren gegangen. Timoteo liebte Catalina, hatte sie schon immer geliebt und hätte sie geheiratet, wenn sie frei gewesen wäre. Aber er hatte ein verkrüppeltes Bein und war nicht imstande, sie zu verteidigen. Da er das wußte, hatte Manuel seine Frau brutal ins Gesicht geschlagen. Als Timoteo dazwischengetreten war, um die Schläge aufzufangen, hatte ihm der Marqués Wein ins Gesicht
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