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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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um zu mir hochzusehen, abgekämpft und gezeichnet von den vergangenen Tagen, mit Ringen unter den Augen und ungekämmtem Haar.
    Ein Blick genügte, um mir zu sagen, was ich sowieso schon wusste. Ich ging zurück in unser Zimmer, wo Gianna und Tillmann immer noch die tief schlummernden Ahnungslosen mimten und sich erst rührten, als unten Schritte laut wurden, dieses Mal geschäftig und zielstrebig und nicht nur von Paul, sondern auch von Colin. Sie sprachen gedämpft miteinander, als würden sie etwas bereden und entscheiden, zwei Männer, die weder Tod noch Teufel fürchteten. Der eine, weil er nicht anders konnte, der andere, weil es sein Job war.
    Die Siesta war schon angebrochen, Hitze und der Lärm der Zikaden, als erneut Geräusche erklangen. Nun schafften es auch Tillmann und Gianna nicht mehr, mir weiterhin ihren Tiefschlaf vorzugaukeln. Paul war nicht wie sonst zu uns gekommen und hatte Essen und Tee gebracht oder uns untersucht; es war auch ihnen klar, dass etwas geschehen sein musste – etwas, was nach Taten verlangte. Wir hatten einen Leichnam im Haus. Und es war zu heiß, um ihn hier liegen zu lassen. Alle üblichen Wege, wie mit ihm zu verfahren war, fielen für uns weg. Kleider im Garten verbrennen – das konnte man noch einigermaßen unbehelligt tun. Eine Leiche verbrennen jedoch nicht. Fleisch stank, wenn es verkohlte, es würde uns verdächtig machen.
    Es war die Aufgabe ihres Sohnes, sie wegzuschaffen.
    Wir standen auf dem kleinen Balkon, Tillmann und Gianna ganz rechts, ich in die linke Ecke gequetscht, weil sie mich immer noch mieden, und schauten zur Straße hinab, als Colin in der größten Mittagshitze auf Louis aus dem Hof trabte, über seinen Beinen ein verhülltes, schlaffes Bündel, das Louis sichtlich in Panik versetzte. Immer wieder begann der Hengst zu steigen und wollte tänzelnd und drehend seine verwesende Fracht loswerden, doch Colin setzte sich mit stoischer Miene durch und trieb ihn die Straße entlang und die Berge hinauf, sein Haar in Flammen, die Augen eisgrün und fern.
    Trotz Giannas keifendem Protest und Tillmanns strafendem Blick ging ich Stunden später, nachdem sich Paul erneut als Einmannputztrupp durchs Haus gearbeitet hatte, nach unten. Mein Bruder saß auf der Schwelle der Eingangstür, wo er seinen letzten Putzeimer ausgeleert hatte. Die Handschuhe hatte er neben sich gelegt und die Unterarme auf die Knie gestützt. Ich fegte die Handschuhe mit den Zehen zur Seite und ließ mich neben ihm nieder.
    Pauls blaue Augen waren dunkel vor Erschöpfung, als er mich ansah. Er wirkte nicht nur gerädert, sondern auch deprimiert.
    »Meine erste Patientin, Ellie … und ich konnte nichts tun. Nichts.«
    »Das ist nicht wahr, Paul. Du hast alles getan, was du konntest. Außerdem war sie nicht deine erste Patientin. Ich war deine erste Patientin!«, erinnerte ich ihn an Hamburg, wo er sich nach Colins Raub meiner angenommen hatte.
    »Ja, und was ist geschehen? Ich hab dir viel zu starke Mittel gegeben und dich beinahe abhängig gemacht. Toller Arzt.« Er zog die Nase hoch wie ein trotziger Junge.
    »Ich wollte es nicht anders und ich hab’s überlebt«, versuchte ich ihn aufzumuntern, obwohl ich ahnte, dass das nicht in meiner Macht lag. Es war selten vorgekommen, dass einer von Papas Patienten sich das Leben genommen hatte, aber wenn es geschehen war, war er tagelang nicht ansprechbar gewesen, hatte sich in seinem Arbeitszimmer verkrochen und mit sich gehadert. Nachts hatte ich seine Schritte gehört, weil er ruhelos auf und ab ging und sich selbst ohne Unterlass infrage stellte – genau wie Paul es jetzt tat. Aber Tessa hatte sich nicht das Leben genommen. Es war das geschehen, was schon vor Jahrhunderten hätte geschehen sollen.
    »Versteh mich nicht falsch, Ellie, ich weiß, was sie euch angetan hat, und ich mochte sie keine einzige Sekunde lang, aber sie war meine Patientin und ich hatte Verantwortung für sie, es war meine Aufgabe, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren, und ich habe versagt …«
    Deutete er an, dass ich ihn hätte wecken müssen? Dass ich diese Entscheidung nicht hätte fällen sollen?
    »Vielleicht war es nicht das Schlimmste, sondern das Beste. Du hast selbst gesagt, dass es ein schmaler Grat ist. Paul, du hast die Situation bravourös gemeistert!« Ich fand mich irritierend erwachsen, Worte wie »bravourös« zu benutzen, doch sie trafen zu, ob ich ihm nun dabei geholfen hatte oder nicht. Paul hatte lediglich sein Grundstudium beendet und seit

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