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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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Treppenstufen nieder, wo er den Kopf gegen die grob verputzte Wand lehnte. »Ach, Ellie, ich wollte immer den hippokratischen Eid schwören, das war mein großer Traum. Ich will ihn nicht brechen, bevor ich ihn überhaupt schwören darf …«
    Paul war in Not, ich sah es ihm an. Er wollte etwas richtig machen, nachdem er so viel falsch gemacht hatte in den vergangenen Jahren, und hatte gleichzeitig Angst, den größten Fehler seines Lebens zu begehen. Doch was für einen Rat sollte ich ihm geben? Wenn ich meine geschwollenen Lymphknoten erwähnte, war klar, wie er sich entscheiden würde. Half ich ihm damit?
    »Paul, ich muss dir etwas sagen. Ich habe …«
    Verdutzt hörte ich auf zu sprechen und sah zu ihm hinunter. Doch ich hatte richtig gehört. Paul schnarchte. Mit offenem Mund hing er an der Wand und schlief. Wahrscheinlich hatte er bis jetzt kein Auge zugetan. Ich dachte an seine Herzblockade, an seine permanente Erschöpfung. An die Atemnot, unter der er immer wieder litt. Ich musste ihn schlafen lassen, wenigstens ein paar Minuten, damit er weiterhin durchhielt.
    Besorgt musterte ich ihn. Die Penizillinspritze war ein Stück aus seiner Tasche gerutscht. Wenn er noch weiter zur Seite kippte, würde sie herausfallen und auf dem harten Boden zerschellen. Mit den Fingerspitzen zog ich die Injektion aus dem Stoff seines Kittels und stand da wie eine Medizinstudentin, die zum ersten Mal in ihrem Leben eine Spritze setzen musste und sich nicht traute. Ich tapste in die Küche, um sie dort abzulegen. Auf dem freigeräumten Tisch hatte Paul einen frischen Kittel, einen Mundschutz und Handschuhe ausgebreitet. Für mich. Falls ich Tessa noch einmal sehen wollte.
    Und verflucht, das wollte ich. Nicht, um mit ihr abzurechnen, und erst recht nicht, um über ihr Leben zu entscheiden. Nein, ich musste Klarheit darüber gewinnen, wer sie war. Ob sie die kleine hässliche alte Vettel mit dem Puppengesicht war, die in ihrer abartigen Gier mein Leben verdunkelt hatte, oder jene beruhigend schöne, sanfte Frau, in deren ausgebreitete Arme ich mich hatte fallen lassen wollen. Oder ein Wesen, das ich nie gesehen hatte? Konnte ich erst jetzt ihr wahres Gesicht erkennen?
    Mechanisch und ohne recht glauben zu können, was ich da tat, desinfizierte ich meine Hände und kleidete mich an: Kittel, Handschuhe, Mundschutz, dann, als wäre sie der letzte notwendige Teil dieser Ausrüstung, steckte ich die Spritze in meine Tasche. All das kam mir vertraut vor, als hätte ich es schon oft getan, als hätten diese Utensilien auf mich gewartet. Für einen Moment agierte ich nicht wie eine Patientin, sondern wie Pauls Kollegin, die ihn nun von seiner Schicht ablöste. Professionell und ruhig.
    Gänzlich unprofessionell jedoch war der unterdrückte Schrei, der mir entfuhr, als ich die Tür des Salons hinter mir geschlossen hatte und Tessa anschaute. Ich erkannte sie nicht wieder. Was vor mir lag, war weder ein lüsterner Dämon noch eine Verheißung. Paul hatte ihre Haare abgeschnitten, nein, geschoren. Natürlich, er hatte das tun müssen, allein aus hygienischen Gründen. Tessa ohne Haare … Die Kopfhaut sah nicht aus, als hätten ihre Wurzeln vor, neue Haare zu produzieren. Sie war komplett kahl, ohne Flaum, ohne Stoppeln, ein schneeweißer, glatter Schädel, unter dem blaue Adern schwach pulsierten.
    Tessas Augen waren geschlossen und tief in ihre braun umschatteten Höhlen gesunken. Mit seltsam abgespreizten Armen lag ihr abgemagerter Körper auf dem weißen Laken, von der Brust bis zu den Knien durch ein Tuch abgedeckt. Paul hatte sie an den Tropf gehängt, um ihr Flüssigkeit zuzuführen, doch dieser Körper wollte sterben. Das war es, was er mir unmissverständlich bedeuten wollte; sein Geruch sagte es mir und auch seine wächserne Haut und die dünnen Knochen, die sich durch das Tuch drückten, ein Leichentuch, keine Bettdecke. Ich tat ihm einen Gefallen, wenn ich die Spritze in meiner Tasche ruhen ließ, wenn ich ihm das gestattete, was er seit Hunderten von Jahren vergeblich versuchte.
    Doch wir Menschen bestanden nicht nur aus unserem Körper. Manchmal wollte der Geist leben, obwohl der Körper beschlossen hatte zu sterben. Wie bei mir. Ich wollte leben, leben mit allen Sinnen, ich wollte lange leben, uralt werden, ich wollte noch so viel sehen und entdecken und auskosten. Intensiver denn je. In diesem Moment, als ich sie betrachtete, wollte ich mich sogar vermehren, nicht nur ein Kind bekommen, sondern mindestens drei, ach nein,

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