Dornenkuss - Roman
unter den Füßen wegzog. Ich kippte nach vorne und sackte in seine Arme, die sofort nach mir griffen und mich an seine Brust zogen, wo mich ohne jegliche Vorwarnung ein unkontrollierbares Zittern überfiel, kein panisches Frösteln wie in den Tagen zuvor, sondern die bahnbrechende Erlösung nach einem langen Kampf. Jetzt erst merkte ich, dass ich meine Muskeln seit dem Mord beinahe ununterbrochen angespannt hatte, wahrscheinlich hatten daher die Schmerzen in Beinen und Armen gerührt und vielleicht sogar das Fiebergefühl. Meine Zähne klapperten, meine Knie bebten, als würde ich geschüttelt, und ich vermochte es nicht, meine Hände an Colins Brust ruhen zu lassen oder sie gar zu heben, um seine Wange zu streicheln, ihn endlich zu berühren und ihm zu verzeihen.
»Das erinnert mich an etwas …«, raunte er mit anzüglichem, aber liebevollem Spott und ich lachte reflexartig auf, weil er sich mir endlich wieder zeigte, wie ich ihn kannte, nie um eine sexuelle Anspielung verlegen, selbst wenn sie noch so unpassend erschien, und mit seinem Vergleich lag er gar nicht falsch.
Mein gewagtes Unterfangen, ihm einen Knuff zu versetzen, scheiterte, doch irgendwie gelang es mir, meine Hände unter sein T-Shirt zu graben und es ihm über den Kopf zu ziehen, wobei sich auch sein Piratentuch verabschiedete. Schon in der nächsten Sekunde hatten sich unsere Haare im Clinch, obwohl meine noch nass waren und eigentlich von einem Gummi gebändigt wurden. Seine Jeans jedoch hatte den üblichen dunklen Hosen gegenüber einen eindeutigen Vorteil, wie ich freudig feststellte – sie saß nicht allzu eng und ließ sich ohne viel Aufheben und Gestrampel von seinen Hüften ziehen.
»Warte«, bat mich Colin mit einem leisen Keuchen, griff neben sich und befreite den Gürtel aus den Schlaufen der Jeans. Dann legte er die Hände über seinen Kopf an den Holzbalken, gegen den er sich lehnte, und nickte mir auffordernd zu.
»Aber … aber sie ist doch …«, erwiderte ich verwirrt.
»Tessa ist tot, ja, aber ich bin immer noch ein Mahr, immer noch hungrig, oder hast du das etwa vergessen? Alles, was sich geändert hat, ist, dass wir mehr Zeit haben, uns gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Nicht viel mehr Zeit als vorher, aber genug.«
Das klang nicht anzüglich, sondern viel zu ernsthaft für eine scherzhafte Bemerkung.
»Darüber will ich nicht reden. Nicht jetzt, okay?« Ich hatte eine vorwurfsvolle Schärfe in meine Stimme legen wollen, doch es war mir vollkommen missglückt. Meine Worte klangen flehentlich, nicht überlegen. Mit einer ruppigen Bewegung zerrte ich mein Kleid, das bei unserem kleinen zärtlichen Handgemenge nach oben gerutscht war, wieder über mein Hinterteil. Trotzdem waren dank unserer eigensinnigen Haare meine Lippen noch nah genug an Colins Mund, dass er sie mit seiner Zungenspitze berühren konnte. Und meine Lippen scherten sich nicht um Stolz und Eigensinn. Sie wollten ihn küssen, sie taten es, ohne mich zu fragen und meine Erlaubnis zu erbitten. Ich biss ihn, doch das störte ihn kaum. Seine Arme glitten wieder herab, schoben sich unter mein Kleid, bis seine kräftigen Fingerspitzen sich in die zarte Haut meines Rückens gruben.
»Okay, jetzt nicht«, wisperte er, befreite seine Arme aus meinem Kleid – ein Akt, der ihn spürbare Überwindung kostete – und drückte mir den Gürtel in die rechte Hand, weil die linke schon andere Ziele im Visier hatte. Einigen konnten sie sich nicht. Ich wollte den Gürtel fallen lassen. Er war mir egal.
»Lassie, rette dich vor mir, bitte …«
Ich löste meine Lippen frustriert von seinen und versuchte, mich zu konzentrieren. Fahrig hob ich den Gürtel auf, band seine Arme an den Balken und verknotete die Enden.
»Das genügt nicht.« Colins lange Finger bewegten sich zur Seite, um die Lederstriemen fester zu ziehen.
Ohne seine Hände auf meiner Haut wurde mir schlagartig kalt und ich fühlte mich mit einem Mal verraten und betrogen. Wieder lag alles, was jetzt geschah, an mir, und bei all unserer Vertrautheit und Zuneigung: Ich war nicht erfahren genug, als dass es mir bereits leichtfiele, nicht nach einer solchen Tortur, nicht nach Albträumen von Pestbeulen und mehrtägiger Todesangst. Vielleicht würde es mir niemals leichtfallen, aber eine andere Wahl hatte ich nicht. Es war idiotisch, gerade erst überlebt zu haben und in der nächsten Minute gedankenlos den Tod anzulocken – oder aber die Ewigkeit, mit dem Preis, dass Colin mich nicht mehr lieben
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