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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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Du bist nicht die erste. Aber irgendwann überlagert die Furcht die Zuneigung. Glaube es mir, ich habe es gesehen. Es ist der natürliche Weg. Nur du kannst mir, kannst uns helfen, ihn nicht zu beschreiten. Vielleicht ist es anmaßend und egoistisch, aber ich möchte jemand sein, an den du dich in Liebe erinnerst und nicht in Hass und Angst. Denn Hass und Angst begleiten mich, seitdem ich geboren wurde.«
    Ich presste mir die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Ich hatte nie zuvor realisiert, dass unsere Liebe Colins Leben zerstört hatte – und wenn es nur Mimikry gewesen war, nur eine Nachahmung. Zu keinem anderen Zeitpunkt war er den Menschen so nahe gekommen und hatte so ähnlich wie sie gelebt.
    »Warum isst du meine Tränen nicht mehr?« Ich musste diese Frage stellen, denn in seinem Haus war es das erste Mal geschehen und in letzter Zeit gar nicht mehr.
    »Weil ich sie hervorrufe. Du weinst sie wegen mir.«
    Ich öffnete meine Lippen und ließ eine von ihnen auf meine Zungenspitze perlen. Sie schmeckte salzig, wie alle Tränen, salzig und schwerer als Wasser. Nun lehnte auch Colin sie ab. Niemand mehr hatte etwas davon, wenn ich weinte.
    »Ich möchte dich nur bitten, darüber nachzudenken, ehrlich und mit ganzem Herzen darüber nachzudenken, so wie du es mir versprochen hast. Mehr nicht.«
    Mehr nicht? Es war schon viel zu viel, dies von mir zu verlangen. Ich hatte flüchtig damit angefangen, nachdem mir klar geworden war, dass ich nicht von der Pest befallen war, zunächst sogar mit scheuer Hoffnung, denn bei Tessa war zumindest etwas übrig geblieben. Ein erbärmlich kranker, alter Mensch. Aber Colin war nie ein Mensch gewesen. Er war ein Cambion, von Beginn an dämonisch und zum Rauben geschaffen. Als ich das erkannte, hatte ich meine Überlegungen sofort aus meinem Gehirn verbannt. Doch nun holten sie mich ein. Was würde bei ihm geschehen? Würde gar nichts von ihm bleiben? Auch jetzt war es mir nicht möglich, mich mit diesem Gedanken zu befassen. Ich würde es mein Leben lang nicht verwinden können, wenn es nicht einmal einen Leichnam geben würde, den ich bestatten konnte.
    »Dass bei Tessa ein Mensch blieb, heißt nicht, dass bei dir auch einer bleiben würde«, wandte ich trotzdem ein. »Denn du … du warst nie einer, oder? Es ist ein zu hohes Risiko!«
    »Nein, das ist es nicht. Denn ich würde niemals so enden wollen wie sie. Jämmerlich krepieren, ohne zu verstehen, was mit mir geschieht. Und das würde ich auch nicht. Ich habe sie gesehen, als sie krank war … Sie war nur ein Mensch. Das war ich zu keinem einzigen Zeitpunkt meines Lebens. Es wäre gut, wenn nichts bleibt.«
    Er schätzte es genauso ein wie ich … Nichts würde bleiben? Gar nichts? War er denn auch vor Tessas Heimsuchung bereits derart dämonisch gewesen? Sie hatte ihn im Leib seiner Mutter befallen und in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens hatte er nicht gewusst, wozu er bestimmt worden war. Doch alle um ihn herum hatten ihn abgelehnt und ihn gefürchtet, weil sie das Dämonische in ihm spürten. Ich erinnerte mich an meine Visionen, in denen ich ihn als Säugling gesehen hatte. Diese schimmernden Perlenaugen … Menschliche Babys hatten keine solch wachen, wissenden Augen. Und nun machte ihm dieser Gedanke sogar Mut, es zu tun. Er wollte gar nicht, dass etwas von ihm blieb. Warum nicht? Warum wollte er nicht bleiben?
    »Tu es, solange du mich noch liebst, Lassie, denn danach hat es keinen Sinn mehr«, brach Colins Stimme durch meine panischen Überlegungen und gab ihnen neue Nahrung. »Du kennst die Formel doch noch, oder?«
    Ich musste Zeit schinden, Zeit, in der ich mir eine andere Lösung ausdenken konnte, und ich musste es ehrlich und respektvoll tun, sonst würde er es nicht dulden. Ich hatte einen furchtbaren Fehler begangen, ihm dieses Versprechen leichtfertig zu geben. Er hatte mich beim Wort genommen. Ich hätte besser verhandeln sollen.
    »Colin, bitte hör mir zu, wie ich dir zugehört habe. Als Freund«, begann ich und musste sofort wieder Luft holen, damit meine Worte nicht zu schwach und dünn klangen. Das Weinen aber konnte ich nicht verhindern. »Ich habe heute Morgen meinen Bruder gebeten, mir ein bisschen Zeit zu geben, bevor ich mich auf die Suche nach unserem Vater mache. Denn ich kann nicht mehr. Ich bin ausgelaugt. Ich hatte geschwollene Lymphknoten und Fieber, fast eine Woche lang, ich dachte, ich muss sterben. Das hat mich all meine Kraft gekostet, weil ich niemandem davon erzählt

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