Dornentöchter
auf.« Sie verschwand im Flur und ließ Dash zurück, der Sadie misstrauisch anfunkelte und knurrte.
Sie versuchte, ihn zu ignorieren, und zog ihr Handy heraus, um Betty eine SMS zu schicken. Ihr war nie wohl dabei, ihre Tochter abends allein zu lassen, doch Betty hatte darauf bestanden, dass es kein Problem sei. Sie würde sich mit ihrem Buch ins Bett legen. Während Sadie auf eine Antwortnachricht wartete, musterte sie die Buchrücken in den Regalen. Abgesehen von Dickens und den Brontë-Schwestern gab es Bücher über Fotografie, Kunst, Mondrian und tasmanische Geschichte. In der Ecke stand die Plastik eines ziemlich hässlichen Vogels, der einen roten Samthut trug, und das Fensterbrett zierte eine Sammlung Muscheln sowie rot und silber bemalte Seesterne. An der Wand hingen gerahmte Porträts von Dash, schwarzweiße Schnappschüsse von Menschen, bei denen es sich wohl um Verwandte und Freunde von Birdie handelte, sowie eine Ansammlung Schwarzweißfotografien von Pencubitt. Ein großes, gerahmtes Foto zeigte eine jüngere, lächelnde Birdie in ihrem Garten neben einem freundlich aussehenden, attraktiven weißhaarigen Mann, der ein violettes Samtjackett und einen Schal mit Schottenkaro trug. Maxwell. Sadie unterdrückte den Impuls, das Bild ihres Großvaters in die Hand zu nehmen, um ihn genauer zu betrachten. Seit so langer Zeit war er in ihrem Leben unerwähnt und doch stumm präsent gewesen. Hier, im Haus seiner Geliebten, wurde er plötzlich real.
»Da wären wir! Oh, was ist denn das für ein Krach?«
Eilig las Sadie die Nachricht von ihrer Tochter – Prima. Bis später. Kuss –, ehe sie Birdie das Tablett abnahm. Dicke Scheiben selbstgemachtes Früchtebrot schmiegten sich an eine Teekanne. Birdie bestand darauf, Sadie einzuschenken.
»War das von Ihrer Tochter?« Sie zeigte auf das Handy, sprach aber weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. »Lionel vom Krankenhaus hat versucht, mich zu so einem zu überreden. Aber daran habe ich kein Interesse. Er sagt, wenn ich in Schwierigkeiten bin, könnte ich sie zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen. Stellen Sie sich vor, Leute, die Tag und Nacht angerufen werden wollen! All diese Mikrowellen, die da die ganze Zeit ins Ohr strömen, müssen sich doch aufs Gehirn auswirken. Sie ist wirklich ein hübsches Mädchen – Ihre Tochter, meine ich. Kommt äußerlich nach Ihrer Großmutter. Aber Sie auch, mit diesen schönen dunklen Haaren. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wunderschön Pearl war«, sagte sie traurig. »Wie ein Filmstar. Sie hatte ein Gesicht wie aus einer Schokoladenwerbung. Es war ihr Segen und ihr Fluch zugleich.«
»Wie meinen Sie das?« Sadie wünschte sich, sie hätte daran gedacht, ihr Aufnahmegerät einzuschalten. Jetzt war es zu spät. Sie konnte nicht riskieren, Birdies Gedankengang zu unterbrechen, der ohnehin schon sprunghaft genug war.
»Es machte sie träge. Weniger dazu geneigt, andere Seiten an sich weiterzuentwickeln. Sie war ziemlich verwöhnt von all der Aufmerksamkeit. Von der Venus gesegnet, aber die Götter verlangten einen Preis für ihre Gabe. Ich war oft froh, dass ich immer nur durchschnittlich aussah.« Sie nippte an ihrem Tee, doch ihr Blick ruhte weiterhin auf Sadies Gesicht.
»Also, ich würde Sie jetzt nicht als Durchschnitt bezeichnen«, widersprach Sadie, die das Gefühl hatte, es würde eine Antwort von ihr erwartet. »Sie sahen aus wie die junge Vivien Leigh.«
»Wie lustig, Ihre Großmutter sagte genau dasselbe«, meinte Birdie. »Ich selbst konnte es nicht sehen. Ich hatte kein Selbstbewusstsein. Wir wurden damals nicht dazu erzogen, uns etwas auf uns selbst einzubilden. Wenn ich mir jetzt die Fotos anschaue, kann ich sehen, dass ich ein wenig hübsch war, doch damals war mir das nicht bewusst. Nicht wie Pearl! Nein, sie hielt sich wirklich für die Größte! Spüren Sie sie im Haus?«, wollte sie plötzlich wissen.
Sadie wusste nicht, was sie antworten sollte. »Nicht im Sinne von rasselnden Ketten und einem Gespenst, das nachts durch die Flure wandert«, erwiderte sie schließlich zögernd. »Aber ich habe das Gefühl, dass das Poet’s Cottage ihr Haus ist. Als wären wir die Gäste, und die Seele des Ortes gehört Pearl.«
»Ja. Sie hat nie gerne etwas losgelassen, die Arme«, sagte Birdie. »Essen Sie noch Früchtebrot! Es ist aus der Bäckerei am Ort – Mrs Pennyquick bäckt es. Sie hat vor sieben Jahren ihre Zwillinge verloren, die Arme. Wurden beide überfahren, ein Unfall mit Fahrerflucht. Ich
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