Dornentöchter
hielt sie mit gestreckten Armen zu einem stummen Segen in die Höhe. Birdie reichte ein paar ihrer Rosen an Betty weiter, dann traten die beiden vor, um einige der Blüten ins Meer zu werfen.
Obwohl Sadie sich etwas komisch dabei vorkam, begann sie den Segensspruch aufzusagen, den sie auswendig gelernt hatte, denn sie war entschlossen, ihr Vorhaben jetzt durchzuziehen. »Wir haben uns an diesem Weihnachtsmorgen hier versammelt, um die Asche meiner Mutter Marguerite zu verstreuen. Auf heilige und liebevolle Art geben wir sie dem Meer zurück – nahe dem Haus und dem Landstrich, wo sie aufgewachsen ist und die sie so geliebt hat. Mum war immer gerne am Meer. Wie das Wasser selbst besaß auch sie heilende Kräfte und war voller Tiefen und Rätsel.«
Birdies erstaunter Ausruf ließ Sadie innehalten. Überrascht stellte sie fest, dass Thomasina sich ihnen langsam näherte. Sie trug einen alten Pullover und Männerhosen. Um den Kopf hatte sie einen Schal gewickelt.
»Ich fass es nicht«, flüsterte Birdie. »Sie hat es sich doch noch anders überlegt.« Thomasina glich einem misstrauischen Tier, das bei der geringsten Bewegung bereit war, die Flucht zu ergreifen.
»Danke.« Das unerwartete Erscheinen ihrer Tante schnürte Sadie die Kehle zu.
Thomasina nahm ihren Platz neben Betty ein. »Verdammt bescheuert, so was in aller Herrgottsfrühe zu veranstalten«, grummelte sie, »aber ich hab mir gedacht, Blut ist nun mal dicker als Wasser, und da konnte ich ja nicht einfach Birdie Pinkerton die Bühne überlassen.« Sie funkelte Birdie böse an, die sich wegdrehte und so tat, als würde sie ihr Schultertuch zurechtzupfen, damit Thomasina ihr Lächeln nicht sehen konnte.
Sadie begann, die Asche aus der Urne ins Meer zu streuen. »Ich bitte die hier Anwesenden, für meine Mutter zu beten und auch für Marguerites Mutter, Pearl, während ich Mums Asche verstreue. Wir sind alle miteinander verbunden, durch Raum und Zeit. Und im Morgengrauen des Weihnachtstages – ein heiliger Tag, den Mum immer ganz besonders gernhatte – geben wir Marguerite dem Meer zurück, das sie so liebte. Mum ist nun eins mit allem Raum und aller Zeit. Und wenn wir die Brandung hören und wenn die Gezeiten kommen und gehen, dann werden wir uns an Marguerite erinnern. Bei Aufgang und Untergang der Sonne werden wir uns an Marguerite erinnern. Solange wir leben, werden wir uns an sie erinnern.«
Das kleine Grüppchen versammelter Frauen fiel in das Versprechen mit ein, sogar Violet mit den gebrochenen Überresten ihrer Stimme. »Wir werden uns an sie erinnern!«
Als Sadie die letzten Krümel der Asche langsam ins Meer rieseln ließ, zog Thomasina – zu Sadies großem Erstaunen – ein Stück Papier aus der Tasche und fing laut und in breitestem tasmanischem Tonfall an zu lesen: »Ich bin nur mal eben nach nebenan gegangen. Bete, lächle, denk an mich, bete für mich. Möge mein Name stets ohne den Anflug eines Schattens ausgesprochen werden. Das Leben geht weiter genau wie zuvor, es besteht ungebrochen fort. Warum sollte man mich vergessen, nur weil man mich nicht mehr sieht? Ich warte auf euch, irgendwo ganz in der Nähe, gleich um die Ecke. Alles ist gut.« Nach diesen Worten zog Thomasina ein Taschentuch heraus und putzte sich lautstark die Nase. Dann fügte sie hinzu. »Das hab ich irgendwo mal gelesen und aufgehoben. Total rührselig und bescheuert, aber Marguerite hätte es gefallen. Sie war immer ein sentimentales Ding.«
Sadie lächelte ihre Tante an und musste mühsam die Tränen zurückhalten, als sie einen Blick auf das verletzte Kind erhaschte, das sie durch Thomasinas Augen hindurch ansah. »Ich danke dir, Thomasina. Das bedeutet mir sehr viel«, flüsterte sie und berührte ihre Hand.
Die alte Frau zog rasch den Arm weg. »Aber glaub bloß nicht, dass ich das jetzt jedes Jahr mache!«, bellte sie.
Betty trat nun ebenfalls vor. Sie sah sehr jung und hübsch aus, und Sadie spürte, wo auch immer Marguerite in diesem Moment war, sie wäre sehr stolz auf ihre Enkelin.
»Ein Segensspruch für Nanna M.«, las Betty aus ihrem Notizbuch ab. »Wir ehren sie und danken ihrem Leben, das uns alle gesegnet hat. Das Leben geht weiter, es ist ein unendlicher Kreis. Und so lasst uns heute an diesem besonderen Ort Abschied nehmen und den Blick ins Licht des Tagesanbruchs lenken, denn wir wissen, dass aus der Dunkelheit die Sonne aufsteigt.
Das Leben gibt und das Leben nimmt. Geburt und Tod sind auf ewig miteinander verbunden. Die Wahrheit über
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