Dornentöchter
freundlichen Stimme, die den Mädchen Dauerlutscher und Bonbons gekauft hatte, wenn sie mit ihnen einkaufen war. Nicht wie Mutter, die immer nur wegen ihrer Zähne herumnörgelte und diesen furchtbaren Zahnarzt gerufen hatte, der sie fast umbrachte. Thomasina summte eine Melodie vor sich hin, um dem Geist zu zeigen, dass sie keine Angst hatte, dass sie nicht an ihn glaubte.
Irgendwann öffnete sie zitternd die Augen wieder und sah, dass der Geist verschwunden war. Er ist nicht echt. Mutter hat gesagt, er ist nicht echt. Ich habe ihn mir ausgedacht, weil ich ein böses, ungehorsames Mädchen bin. Er ist aus Nebel und Träumen gemacht, und er ist nicht echt.
Ein Klopfen an der Tür holte Thomasina abrupt in die Gegenwart zurück. Sie war nicht mehr das verängstigte kleine Mädchen in einem eiskalten Garten, das nicht begriff, was es soeben gesehen hatte. Stattdessen war sie eine verbitterte, einsame alte Frau, die – viel zu lange nach dem eigentlichen Ereignis – anfing, die nebelhaften Teile eines makaberen Puzzles zusammenzusetzen. Wie ein verstörender, undeutlicher Traum ergaben die einzelnen Stücke keinen Sinn, bis sie auf eine bestimmte Weise betrachtet wurden. Und dann bekam das Bild eine klare, entsetzliche Bedeutung.
Vor der Tür stand Betty, woraufhin Thomasina die säuerliche Begrüßung, die sie auf den Lippen hatte, hinunterschluckte. Es war merkwürdig, wie es Marguerites Enkelin gelungen war, an ihr Herz zu rühren. Mit ihrer Verletzlichkeit und Unschuld verkörperte Betty die Jugend, die Thomasina selbst, ihrem Gefühl nach, nie gehabt hatte.
»Was denn noch?«, grummelte sie nun.
»Mum wollte wissen, ob du vielleicht ihr Hühner-Curry probieren magst.« Betty hielt ihr eine rote Auflaufform hin, aus der köstliche, würzige Düfte stiegen.
Diese schlichte Geste der Freundlichkeit traf Thomasina völlig unvorbereitet. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal jemand eine Mahlzeit für sie gekocht hatte, für die sie nicht hatte bezahlen müssen. Als sie nun das Mädchen zu sich hereinwinkte, kam es Thomasina so vor, als würde etwas in ihrem Bauch rumoren: ein Gefühl, als wäre die Hand eines schlafenden Riesen erwacht und würde nun beim Versuch zu fliehen an ihren Innereien kratzen.
»Geht’s dir gut?« Betty sah sie besorgt an.
Thomasina schluckte und dachte angestrengt nach. Reden oder schweigen? Ihre Mutter war lang tot: Es gab nichts, womit Pearl ihr jetzt noch weh tun konnte. Hatte sie damals einen Geist gesehen? Oder war der Geist in Wirklichkeit ein Mann aus Fleisch und Blut gewesen?
Sie fing an zu erzählen. Der Currygeruch erfüllte die Küche und vermischte sich mit ihren Worten und der Erinnerung, die so lange weggeschlossen gewesen war. Ihr Vater, der normalerweise so sanft und liebevoll war, brüllte, als er die Tür zuschlug. Pipi auf ihren neuen Schuhen, der blutige Wattebausch im Mund, der Geschmack ihres eigenen Blutes von dem frischen Loch in ihrem Kiefer. Das seltsame Lächeln des Geistes, seine leichenblasse Haut. Marguerites Schreie, als man ihr sagte, ihre Mutter sei tot. Die Angst, die Thomasina monatelang mit sich herumtrug, der Geist könne zurückkommen. Die wiederkehrenden Träume, in denen sie die schrecklichen Laute hörte und die grauenvolle Gestalt sich an ihrer Mutter labte. Thomasina hatte von den höllischen Geräuschen gehört, die Tasmanische Teufel machen, wenn sie Kadaver verschlingen, und Mutter hatte ihnen immer wieder gerne vom ihrem gruseligen Geheul und Knurren erzählt, wenn sie sich durch Knochen und Fleisch bissen. Thomasina hatte geglaubt, das wären die Geräusche gewesen, die sie unten in diesem Keller gehört hatte: ein Teufel im Fressrausch. Nun wusste sie, dass kein Tier im Keller gewesen war, sondern ihr Geist. Die Erkenntnis, die geheime Wahrheit, die sie immer unterdrückt hatte: Es war gar kein Geist gewesen, sondern ein Mann.
Die Worte sprudelten aus ihr heraus, während Betty ihr zuhörte, ab und an nickte, sie aber nicht unterbrach. Thomasina war regelmäßig schreiend aus Alpträumen erwacht, weil sie dachte, der Geist stünde im Zimmer und lächelte sie an. Oder sie erwachte voller Panik, weil sie das Gewicht eines gedrungenen Teufels auf ihrer Brust hocken fühlte. Alle schrieben diese Träume jedoch bloß dem Trauma zu, dass sie ihre Mutter verloren hatte. Vater nahm sie mit nach Übersee, um dem Gerede und den Erinnerungen zu entfliehen, und allmählich verblasste auch der Geist. Als die Monate dann zu
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