Dornentöchter
gingen wie in einem Traum vorbei und zeigten hinauf zu seiner Fassade.
»In den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ist dort ein Mord passiert«, sagten sie zueinander. »In diesem Haus spukt es.«
»Das ist das Poet’s Cottage, wo einst eine berühmte Kinderbuchautorin gelebt hat.«
»Das ist das Poet’s Cottage. Dort haben schon immer Dichter und Schriftsteller gewohnt.«
Spinnen und Schlangen krochen durch den Garten. Ein Opossum huschte hinter den Skulpturen der Stachelranken-Männer vorbei.
Der erste Spatenstich traf die Erde, wo das Fundament für das Haus gelegt wurde. Ein schüchterner und zurückhaltender Mann, der seine Frau und seine Kinder liebte – ein Mann, an den man sich wegen seiner Genialität erinnern würde –, studierte die Pläne und gab dem Haus seiner Träume für seine Familie Gestalt.
Sträflinge versammelten sich dort bei Nacht, um sich in Sicherheit schmuggeln zu lassen. Walnuss-, Eisenkraut- und Magnolienbäume wurden gepflanzt. Sie wuchsen, blühten, warfen ihre Blätter ab und blühten erneut.
Ein Mann mit einem starren Lächeln schritt durch den dichten Nebel, so leise wie die Erinnerung eines Geistes. Seine Schwester, Jean, überlief ein Schauer, während sie am Bahnhof wartete, und sie lachte leise in sich hinein, weil ihre Prophezeiung über den Tod einer gewissen dunkelhaarigen hochnäsigen Schönheit sich nun bewahrheiten würde. Ihre Worte legten sich für immer über das Mauerwerk des Poet’s Cottage, wie eine tödliche Kletterrose, die droht, es zu erwürgen: Meine Engel täuschen sich nie … Der Schuldige mit den befleckten Händen ist ganz nahe. Gib Acht!
Vor dem Haus stand Pearl Tatlow mit einer Zigarette in der Hand. Der Rauch formte einen Ring um Sadies Kopf, die ganz in ihrer Nähe stand. Beide Frauen blickten sich um, weil sie einen Schatten spürten, doch keine sah die andere.
Einstweilen ruhte das Haus in Frieden, während es mit seinen Geistern schlummerte. Das Poet’s Cottage lag zwischen den Welten und Zeiten. Die Lebenden und die Toten teilten sich dieselben Räume, doch keiner erkannte den anderen. Das Haus konnte sich verbiegen und formen, um sie alle zu beherbergen, denn das Haus wusste, dass es sich nur um Schatten handelte.
Tausend Gebete, Wünsche, Träume, kaputte Knochen, verlorene Zähne und gebrochene Herzen. Das Poet’s Cottage behütete alle voll Zärtlichkeit. Seine Geheimnisse wuchsen wie Efeu und verwoben dabei Träume und Fleisch.
Nacht.
Frieden.
Zuhause.
NACHWORT DER VERFASSERIN
Liebe Leser,
Im Jahr 2007 , während eines Familienurlaubs im malerischen Fischerdörfchen Stanley an der Nordwestküste Tasmaniens, erblickte ich zum ersten Mal das Haus am Meer, das den Funken entzündete, aus dem Dornentöchter entstand. Tasmanien, mit seiner wilden Schönheit und seiner dramatischen Geschichte bot natürlich schon vielen Schriftstellern reichlich Inspiration, von Carmel Bird über Chloe Hooper bis hin zu Nicholas Shakespeare.
Ich bin eine stolze Tasmanierin der fünften Generation und leide oft unter Heimweh nach meinem Geburtsland. Mein Mann hat sich schon daran gewöhnt, dass ich mich auf all unseren Reisen ständig in irgendwelche Häuser verliebe. Diesmal war es jedoch etwas anderes, denn ich hatte das Gefühl, als hätte mir dieses Haus etwas zu erzählen. Immer wieder stand ich draußen vor dem Tor, sah zu, wie der Mond über den Schornsteinen aufging, schloss die Augen und versuchte, der Geschichte und den Geheimnissen zu lauschen, die das Haus meiner Überzeugung nach barg.
Im Zuge einer Unterhaltung mit einem freundlichen Herrn im Ort erwähnte ich zufällig meine Begeisterung für das Haus, und er strahlte: »Das ist das Poet’s Cottage, und ich bin der Dichter, der einst dort gewohnt hat!« Dieser Mann war Lin Eldridge, und als er erfuhr, dass ich ebenfalls Schriftstellerin bin, machte er mich mit seiner Frau, Marguerite Eldridge, bekannt. Ich hatte damals keine Ahnung, dass Marguerite in Tasmanien eine sehr bekannte Persönlichkeit ist. Im Januar 2011 wurde sie für ihre Dienste für die Gemeinschaft und die Künste sogar mit dem »Order of Australia« ausgezeichnet.
Marguerite, die in ihren erfolgreichen, selbstverlegten Büchern von ihrem Leben in Stanley erzählt, war eine wahre Fundgrube an Informationen über das Leben in einer Kleinstadt. Marguerite wohnte im Gull Cottage, so wie meine Birdie Pinkerton im Seagull Cottage. Beide Frauen waren erstaunlich jugendlich für ihr Alter,
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