Dornröschengift
unwiderstehlich anzuziehen . Eine ähnliche Wirkung hatte Finn auf mich . Nervös fragte ich: »Was meinst du, was mit Lisa passiert ist? « Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe sie j a nicht gekannt. « »Lisa ist nicht der Typ, der einfach abhaut. « »Wer weiß schon, was in einem Menschen vorgeht«, sagte e r und sah mich an . Etwas passierte mit mir. Nicht so etwas Kitschiges, dass mein e Knie weich wurden oder meine Beine schwach. Nein, über de m Raum schien eine magnetische Kraft zu liegen. Eine unsichtba re Macht, ich fühlte mich von dieser unerklärlichen Kraft z u Finn hingezogen. Unwillkürlich ging ich einen Schritt auf ihn z u und war nicht überrascht, als er dasselbe tat . Jetzt standen wir dicht voreinander . Er war um einiges größer als ich, sodass ich den Kopf hebe n musste, um ihn anzusehen. Rasch senkte ich wieder den Blick , wagte nicht zu denken, was nun zwischen uns geschehen könn te. Hoffte, es würde passieren, fürchtete es ebenso . Das Schlimme: Mein Verstand setzte aus . Das Gute: Die Last der letzten Wochen fiel von mir ab . Das Beängstigende: Ich hatte keine Widerstandskraft . Finn nahm mein Gesicht in seine warmen Hände . Hoffentlich musste ich nicht ausgerechnet jetzt niesen . Er beugte sich nach unten, hielt eine Sekunde inne, bis sein e Lippen meine trafen . Nur ein kurzer Moment . Er ließ mich los . Es war wie eine Halluzination gewesen. Wie der Splitter eine s
Traums. Er sollte nicht aufhören, mich zu küssen! Ich legte mei nen Kopf an seine Brust und wartete . Nur das Heulen des Windes . Das Klappern der Fensterläden . Das Summen einer Fliege . Schweigend standen wir einige Minuten da, bis Finns Kopf sic h erneut senkte, um mich zu küssen . Ein Geräusch ließ mich aufschrecken . »Was ist los?«, fragte Finn . »Ist da jemand? « »Nur der Wind. « »Nein, da draußen ist jemand. « In diesem Augenblick fiel die Tür hinter uns ins Schloss. Etwa s krachte. Erschreckt fuhren wir herum. Über unseren Köpfe n flog ein großer weißer Vogel durch die zerbrochene Scheib e nach draußen . »Nur eine Möwe«, beruhigte mich Finn. Er grinste, zeigte ein e Reihe blendend weißer Zähne: »Sie hat uns beobachtet. Jetz t weiß es morgen die ganze Schule. « Ich lachte, doch beruhigt war ich nicht. Mein Gefühl sagte mir , dass jemand hier war . Jemand hatte uns beobachtet .
Als ich nach Hause kam, stand der Landrover meines Vaters i n der Auffahrt. Ich stellte mein Fahrrad ab und durchquerte de n Garten, um das Haus durch den ehemaligen Dienstbotenein gang zu betreten, den meine Eltern zum Wintergarten umge baut hatten . Ich war völlig außer Atem und hatte ein schlechtes Gewissen , weil ich mich zum Essen verspätet hatte. Das gab mit Sicherhei t Ärger . Aber – ich hielt für einen Moment inne und spürte wieder dies e unbändige Freude, die sich in mir ausbreitete – das war es mi r wert gewesen . Ich schob gerade die Glastür auf, als ich verblüfft registrierte , dass meine Mutter lachte . Wann hatte Mam das letzte Mal gelacht ? Dann eine Stimme, die etwas sagte . Durch meinen Körper ging ein Stromstoß. Ich sah wieder da s Gesicht am Rückfenster des beleuchteten Autobusses und di e Gestalt im Garten, hörte die verzweifelte Stimme meiner Mut ter: Mike kann noch am Leben sein ! Ich rannte durch den Wintergarten und riss die Tür zum Wohn zimmer auf . Mam saß neben meinem Vater auf dem Sofa. In ihrem Gesich t las ich etwas, das ich lange vermisst hatte: Aufregung, Erwar tungsfreude, Optimismus. Ihre Wangen waren gerötet . Dennoch, obwohl ich sie lächeln sah, spürte ich eine unbe stimmte Furcht in mir. Sie kroch von den Zehen aus langsa m nach oben, als ob der gefrorene Tau, der jetzt morgens auf de n Feldern lag, in meinen Körper einzog. Mir war plötzlich kalt. Ic h zitterte. Ob vor Kälte oder Angst – ich konnte das Gefühl nich t benennen . Er saß mit dem Rücken zu mir . Vertraute blonde halblange Haare, die sich im Nacken kringel ten . »Warum hast du die Haare eines Engels und ich die eines Teu fels?«, hatte ich Mike gefragt . »Weil ich ein Erzengel bin«, hatte er gegrinst. »Deswegen heiß e ich ja auch Michael. Aber du bist wie der Teufel. Misstrauisch , neidisch und vor allem verdammt missgünstig. « Ich musste husten . Laut und unüberhörbar, ich konnte gar nicht mehr aufhören . »Sofie, da bist du ja«, hörte ich meine Mutter rufen. »Oh, mei n Schatz, du bist ja krank. Hast du Fieber?« Sie sprang auf un d legte die Hand
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