Dornröschengift
heute? « Sie schwieg einige Sekunden. Der Schaukelstuhl knarrte leis e und bewegte sich schließlich, wie von einem leichten Wind hauch angestoßen, hin und her . »Da war ein Anruf heute Morgen«, erklärte sie . Ein Anruf? Mein Herz begann laut zu klopfen. »Wegen Mike? « Sie gab keine Antwort. Stattdessen starrte sie hinaus auf de n grauen Himmel und murmelte vor sich hin. »Ich muss die Fens ter noch putzen. Wenn er kommt, muss hier alles in Ordnun g sein. « Ehrlich, sie sah in diesem Moment so überzeugt aus, dass mi r ein kalter Schauer über den Rücken lief. Hatten sie Mike gefun den? Erfuhren wir nun endlich, was mit ihm an dem Tag im Ja nuar geschehen war, als er mit Tom zum Tauchen fuhr? Konnt e es sein, dass er noch am Leben war ? »Mike? Mike kommt?«, fragte ich ungeduldig. »Mam, was fü r ein Anruf? « »Dieser Junge …«, murmelte sie . Verzweifelt rief ich: »Welcher Junge? « »Tom, der Junge aus Australien. Er möchte uns besuchen, eini ge Sachen vorbeibringen. « »Tom? « Sie nickte. »Du weißt doch, dein Vater hat ihn eingeladen, als e r vor drei Monaten … « Nun wusste ich, von wem sie sprach. Tom war der Sohn vo n Mikes Vermieterin in Brisbane, Australien . Ich setzte mich auf das Bett. »Wann kommt er? « »Morgen! « »Morgen schon? « Der Gedanke versetzte mir einen Stich. Es war derselbe Tag, fü r den Mike den Rückflug gebucht hatte .
»Mike kommt am 30. April zurück«, murmelte meine Mutter vor sich hin, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Ihr Blick war oh ne Leben. Sie war in ihre einsame Trauer abgetaucht, die sie mit niemandem zu teilen bereit war. Ich wusste, wie sie litt, wie sie sich die letzten Wochen selbst gequält hatte, je unwahrscheinlicher es wurde, dass man Mike fand. Stundenlang hatte ich sie weinen hören. Dennoch: Litten wir nicht alle? Hatte sie ein einziges Mal gefragt, wie es mir ging? Wie ich mich fühlte? Oder Pa? Ich biss die Zähne fest aufeinander. Plötzlich hatte ich den sehnlichen Wunsch, das alles meiner Mutter ins Gesicht zu schreien. Einfach die Wahrheit herausbrüllen. Die nackte Wahr heit. Sie sollte aufhören, sich und uns etwas vorzumachen! Hey, ich war fünfzehn Jahre alt. Mir war verdammt klar, was es bedeute te, im Pazifischen Ozean zu ertrinken. »Nein, Mam«, seufzte ich schließlich, stand auf und strich ihr be ruhigend über die Haare. »Tom kommt, nicht Mike.« Doch sie antwortete nicht. Ich hatte das Quietschen des Schaukelstuhls noch im Ohr, als ich nach unten ging, um Nudeln zur Tomatensoße zu kochen.
Den Nachmittag verbrachte ich in meinem Zimmer mit den Schularbeiten. Meine Mutter hatte sich wieder hingelegt, ohne mit mir zu essen. Ich war es gewesen, die die Küche in Ordnung brachte. Die Vorstellung, dass morgen Tom kommen würde, der meinen Bruder als Letzter gesehen, der die Monate mit ihm in Australien verbracht hatte, machte mich nervös. Hatte er Neuigkeiten? Würde er viel von meinem Bruder erzählen? Ich konnte mich nicht länger auf meine Bücher konzentrieren. Abrupt sprang ich vom Schreibtisch auf und zog mein Tage buch aus dem untersten Fach der Kommode, wo ich es in einen alten Schlafanzug gewickelt aufbewahrte. Seit über einem Jahr hatte ich kein Wort mehr geschrieben. Als ich es jetzt in die Hand nahm und aufschlug, erschien mir die Vierzehnjährige, die dort ihre Sorgen notiert hatte, lächerlich kindisch, ja geradezu albern. Diese Sofie war mir inzwischen fremd. Sie schrieb über Probleme, die keine waren: Filme, neue CDs, Bücher, die Jugendband, lächerliche Diskussionen mit den Eltern und natürlich lange Abhandlungen über sämtliche Klassenkameraden und meine ehemals beste Freundin Carlotta, die mich zu der Zeit schmählich im Stich gelassen hatte. Vor einem Jahr hatte sie gerade angefangen, mit Valerie herumzuhängen und natürlich mit Ruven. Mike meinte damals: »Wenn jemand auf die andere Seite der Macht wechseln will, kannst du ihn nicht aufhalten.« »Von wegen andere Seite der Macht«, hatte ich wütend gefaucht. »Carlotta ist einfach nur in Ruven verknallt, das ist alles.« »Seid ihr das nicht alle?«, grinste er anzüglich. »Ich fall auf den Idioten nicht herein!« »Warum erzählst du dann ständig von ihm, von Carlotta, Valerie, Lisa und wie sie alle heißen?« »Weil ich mich Tag für Tag mit ihnen herumschlagen muss. Schließlich gehen wir weiter in eine Klasse.« »Genau«, hatte Mike geantwortet. »Du wirst sie nicht los. Aber im Grunde ist es auch egal. In jeder Klasse gibt es
Weitere Kostenlose Bücher