Dornroeschenmord
Rolle. Wenn Angehörige der britischen Aristokratie heirateten, so wurde Mandy durch die Tagebücher belehrt, war einiges mehr im Spiel.
Denn der Graf liebte nicht Alice, sondern seine langjährige Mätresse. Die Heirat hatte er als irdische Fusion und nicht als himmlischen Bund betrachtet. Er hielt um ihre Hand an, doch was er wollte, war ihr Land. Und einen Stammhalter, am besten noch einen in Reserve dazu.
Drei Jahre dauerte es, bis Alice endlich schwanger wurde, und die Enttäuschung des Grafen, als ihm nur eine Tochter geboren wurde, war unermeßlich. Er hatte so fest mit einem Sohn gerechnet, daß er nicht einmal einen Mädchennamen in petto hatte. In aller Eile einigte man sich schließlich auf den Namen Gwendolyn Sarah.
Doch das Schicksal hatte für den selbstgefälligen Mann einen weiteren Denkzettel parat: Alice starb wenige Wochen nach der Geburt, und damit wurde auch die Hoffnung auf einen Sohn begraben. Es sollte dabei bleiben, denn wie Mandy aus den Tagebüchern erfuhr, hatte Gwendolyns Vater nie mehr geheiratet und seine Tochter ein Leben lang mit seiner Mißachtung gestraft.
Mandy, die in einer lebhaften und warmherzigen
Familie aufgewachsen war, fiel es nicht ganz leicht, sich in die karge Gefühlswelt der jungen Gwendolyn zu versetzen. Es klang alles so bitter und freudlos, doch die traurige Wahrheit in ihren kindlichen Worten führten dazu, daß Mandys Gedanken sich noch im Schlaf mit dem Schicksal von Edwards Mutter befaßten.
Als sie am nächsten Morgen mit Dorothee beim Frühstück saß, gab es kein anderes Thema. Selbst Dorothee, die die Dinge immer mit einer gewissen Skepsis und Distanz betrachtete, empfand nach den Schilderungen ihrer Freundin so etwas wie Mitleid für Gwendolyn. Was Mandy ziemlich überraschte, denn eigentlich hätte sie am ehesten mit einer spöttischen Bemerkung gerechnet.
»Du hattest übrigens recht«, meinte Mandy, »Gwendolyn hat sich tatsächlich mit Naturheilverfahren und dergleichen beschäftigt. Nachdem ihr Vater Liza nicht nach Indien hat nachkommen lassen, hat sie sich im Laufe der Zeit sehr eng an ihr neues Kindermädchen angeschlossen. Die Angehörigen von Sita waren Anhänger eines Swamis mit dem Namen Nayinar und meditierten einmal in der Woche in seinem Aschram. Dieser Swami beschäftigte sich unter anderem mit Heilung durch Meditation, Pflanzen und Akupunktur und vermittelte seine Lehren an seine Schüler, und Sita gab sie weiter an Gwendolyn. Wenn ich ihre Tagebücher richtig interpretiere«, fuhr Mandy fort, »dann war sie von dem Thema richtig besessen.«
Den Nachmittag verbrachte Mandy auf der Couch im Wohnzimmer, vertieft in Gwendolyns Geschichte.
12 . Dezember 1958
London! Seit zwei Wochen wohne ich bei Tante Laura, aber an die Kälte gewöhne ich mich nicht. Wenn man es wie ich gewohnt ist, immer einen warmen Hauch auf der Haut zu spüren, dann ist Schnee schon etwas Seltsames. Trotzdem genieße ich es, wieder hier zu sein. Und all die Geschäfte und was man darin alles kaufen kann – und zwar sofort, ohne daß man es erst bestellen und darauf warten muß.
Obwohl ich mich an Indien gewöhnt hatte, möchte ich nicht mehr dorthin zurück. In meinem Herzen und meinem Wesen bin ich Europäerin geblieben. Und morgen werde ich Kleider einkaufen gehen. Tante Laura kennt die besten Geschäfte. Sie ist ja so elegant.
27. März 1959
Ja, ich weiß, ich habe lange nichts mehr von mir hören lassen. Aber ich war so beschäftigt, daß ich gar keine Zeit und keine Gedanken für mein Tagebuch hatte. Inzwischen habe ich so viel erlebt, daß ich es einfach aufschreiben muß. Nicht nur, daß ich viele Bälle besucht habe (Tante Laura hat sogar zwei mir zu Ehren gegeben), ich war auch viel verreist.
Nach Weihnachten – es war übrigens ein wunderschönes Fest, das schönste Weihnachten in meinem Leben überhaupt – fuhr ich nach Magnolias Garden auf Madeira. Das Haus gehört einem Cousin meiner Mutter und liegt außerhalb der Hauptstadt Funchal. Ich wurde sehr liebevoll empfangen und fühlte mich auch gleich heimisch. Mein Gott, wie ist es schön dort! Diese Blumenpracht und diese Farben sind wahrscheinlich einzigartig auf der Welt, jedenfalls habe ich noch nichts Vergleichbares gesehen.
Es war noch nicht so warm, daß wir schwimmen konnten, dafür segelten wir fast jeden Tag auf dem Meer und angelten. Abends gaben wir die Fische der Köchin. Ich habe mir bislang gar nicht vorstellen können, wieviel Spaß so etwas machen kann.
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