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Dornroeschenmord

Dornroeschenmord

Titel: Dornroeschenmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kalman
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sollte. Aus einem braunen Wildledertäschchen zog Gwendolyn die Nadel und löste sie aus ihrer Papierhülle. Anschließend hielt sie Mandy ein Glas mit dem aufgelösten Beruhigungsmittel an den Mund.
    »Trink das, es wirkt schnell und nimmt dir die Angst.« Wenig später bemerkte Mandy, wie ein Gefühl der Gleichgültigkeit allmählich ihre Sinne benebelte und sie willenlos in sich zusammensacken ließ. Die Hand, die langsam über ihren Nacken fuhr, um die richtige Stelle zu finden, nahm sie gar nicht mehr wahr. Sie spürte auch nicht, wie Gwendolyn die Haut zwischen Zeige- und Mittelfinger zusammenkniff und die Nadel geschickt durch die oberste Schicht schob, bis der Tod nur noch wenige Atemzüge entfernt war.
     
    Es sollte lange dauern, bis Edward die Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, verarbeitet hatte. Jahre später, als er meinte, sie überwunden zu haben, holte ihn das Entsetzen, das er in jener Nacht verspürt hatte, plötzlich wieder in seinen Träumen ein. Nie würde er das Grauen vergessen, das er empfand, nachdem er die Tür zu Mandys Zimmer geöffnet hatte. Es war wie ein Déjà-vu-Erlebnis, als er sah, wie seine Mutter sich über Mandys Körper beugte und mit der tödlichen Nadel in den Nacken stach. Das Bild aus dem Traum, in dem Gwendolyn Mandys Herz durchbohrt hatte, stand unvermittelt vor ihm, und er spürte, wie sich sein Mund öffnete, um zu schreien, aber es kam kein Ton heraus.
    Erst in dem Moment, als Gwendolyn ihn bemerkte, kehrte das Leben in ihn zurück, und ihr Blick ließ sein Herz für den Bruchteil einer Sekunde stocken. Obwohl er über ihren Geisteszustand Bescheid wußte, war es unerträglich, wie der Wahnsinn in ihren Augen glomm. Sie waren weit aufgerissen, und ein unnatürlich triumphierendes Leuchten flackerte darin, als wüßte sie nicht, daß der Sieg, den sie erringen wollte, letztendlich sie selbst vernichten würde.
    Ohne sich bewußt zu sein, was er tat, machte Edward einen Schritt auf sie zu. Mit einer einzigen Bewegung stieß er Gwendolyn jäh zur Seite, zog die Nadel aus der Haut und riß Mandy in seine Arme. Ein rauhes Schluchzen kam über seine Lippen, und gleichzeitig gab Gwendolyn einen Schrei von sich, der den tobenden Schmerz in ihr verriet. Der Ton sollte ewig in Edwards Ohren gellen.
    Wie lange es gedauert hatte, bis Mandy wieder bei vollem Bewußtsein war, konnte er später nicht mehr sagen, nur wie ungeheuer seine Erleichterung darüber gewesen war, daß sie noch lebte. Erst als er sich davon überzeugt hatte, daß sie keine ernsthafte Verletzung erlitten hatte, wurde ihm die Stille im Raum bewußt: Gwendolyn war spurlos verschwunden.
     
    Gwendolyn blieb verschwunden. Nachdem Edward und Mandy die bewußtlose Dorothee gefunden und ins Krankenhaus gebracht hatten, waren sie zu Gwendolyns Villa in München gefahren. Alles war unverändert, sogar der leichte Lavendelduft zog noch durch die Räume, nur Gwendolyns Kleider und ihre Papiere waren nicht mehr da. Ebensowenig wie eine Nachricht, wohin sie gegangen war. Wochen vergingen, ohne daß sie etwas von ihr hörten.
    Edward machte sich Vorwürfe, daß er nicht schon viel früher eingeschritten war, wo er doch schon lange geahnt hatte, wer hinter den Dornröschenmorden steckte. Spätestens seitdem ihm sein Feuerzeug in Elisabeth Hellers Wohnung in die Hände gefallen war, hatte er gewußt, daß nur seine Mutter es dort vergessen haben konnte. Er selbst hatte Elisabeth in ihrer Wohnung nicht mehr aufgesucht, und über die Vorliebe seiner Mutter, seine Feuerzeuge unbewußt einzustecken, hatte er sich früher schon lustig gemacht.
    Früher, das erschien ihm jetzt wie ein anderes Leben. Er hatte seine Mutter geliebt, und einen Teil von ihr liebte er immer noch. Den, der ihm eine behütete Kindheit gegeben hatte und das Gefühl, für immer beschützt zu sein. Nur deshalb konnte er es vor sich entschuldigen, daß er nicht die Polizei hinzugezogen hatte, als sein Verdacht immer stärker wurde und sich zuletzt bestätigt hatte.
    In den Tagen vor Mandys Rettung hatte er fieberhaft alles vorbereitet, um Gwendolyn in ein Sanatorium in Norddeutschland zu bringen, wo sie unter strengster ärztlicher Aufsicht gestanden hätte. Um seine Mutter zu schützen, hatte er dem zuständigen Professor eine völlig andere Geschichte erzählt, die Gwendolyns Geisteszustand erklären sollte, und spätestens beim Anblick einer runden Summe Bargeld war der Arzt vollständig von deren Glaubwürdigkeit überzeugt gewesen. Jetzt war

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