Dr. Stefan Frank - Halt dich an mir fest!
du genug zu essen und zu trinken hattest, doch das Wichtigste, was ein Kind braucht, um wirklich aufzublühen, hat sie dir verweigert: ihre Liebe.
Deine Mutter ist ein komplizierter Mensch. Ich habe sie bestimmt nicht durch eine rosarote Brille gesehen, ihre schlechten Seiten waren mir durchaus bewusst, und trotzdem habe ich sie geliebt. Isabell, ich weiß, wie oft sie dich verletzt und gekränkt hat, aber vergib ihr dennoch, wenn du kannst.
Oh nein, dachte Isabell bitter und ließ den Brief sinken. Das werde ich nicht tun! Niemals!
Dann las sie weiter.
Ja, natürlich kenne ich ihre Seite der Geschichte, aber ich hatte schon bald den Verdacht, dass nicht alles so ist, wie sie es mir geschildert hat. Deshalb habe ich vorsichtig Erkundigungen über deinen leiblichen Vater eingezogen..
Ein einfacher Mensch schien er mir nicht zu sein – von daher wundert es mich nicht, dass er und deine Mutter nicht miteinander zurechtgekommen sind. Aber schlecht ist er nicht. Überhaupt nicht.
Es hat ihm wehgetan, dass ihm jeglicher Zugang zu dir verwehrt war. Es stimmt nicht, was deine Mutter behauptet hat, dass er nichts von dir wissen wollte – aber das habe ich erst viel später herausgefunden. Denn ich habe lange, sehr lange gebraucht, bis ich wirklich bereit war, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Ich meine, es war schon eine merkwürdige Situation für uns beide, oder? Du bist ein Teil von ihm, aber meinem Herzen hätte kein leibliches Kind näherstehen können als du. Du warst und bist ein so wunderbares Mädchen, und so wollte ich, dass er erfährt, wie es dir geht – doch er wusste erstaunlich gut über dich Bescheid.
Isabell, er hatte jemanden in Düsseldorf engagiert, der ein Auge auf dich hatte, jemand, der beobachtet hat, wie es dir geht.
Er hat mir leidgetan. Ist es nicht traurig, wenn man solche Methoden einsetzen muss, um mehr über sein Kind zu erfahren?
Schließlich habe ich mich mit ihm in Verbindung gesetzt, und wir haben uns über die Jahre hinweg immer wieder getroffen. Damals habe ich ihm gesagt, dass er diesen Menschen nicht mehr braucht. Ich habe ihm versprochen, dass ich ihn auf dem Laufenden halten würde, was dich betrifft.
Deine Mutter ahnt natürlich nicht das Geringste davon.
Aber du, Isabell, kannst du mich verstehen? Ich hoffe, du bist mir nicht böse wegen dem, was ich getan habe.
Papa, ich liebe dich, dachte Isabell und wischte sich die Tränen weg. Und warum sollte ich dir böse sein, weil du ein wenig von deinem Glück abgeben wolltest? Du warst der wunderbarste Mensch, den ich kenne.
Ich liebe dich, Kind . Ich habe mich mit meiner Krankheit und meinem Tod arrangiert. Das Einzige, was mich wirklich wütend und traurig macht, ist, dass mir nicht noch ein paar Jahre mehr mit dir vergönnt sind.
Vergiss mich nicht!
Isabell weinte so sehr, dass sie glaubte, sie könne nie in ihrem Leben wieder damit aufhören.
Niemals werde ich dich vergessen, Papa, dachte sie.
Warum? Warum hatte ihre Mutter ihr diesen Brief vorenthalten? Begriff sie nicht, was sie ihr damit angetan hatte? Wollte sie es nicht begreifen? War es ihr egal?
Die lieben Worte ihres Vaters hätten ihre Trauer mildern, hätten ihr Trost und Hoffnung geben können, als sie beides so dringend gebraucht hatte. Isabell wusste, sie hätte diesen Brief wie einen Schatz aufbewahrt und ihn jedes Mal hervorgeholt, wenn der Schmerz über Jans Tod sie niedergedrückt hatte. Und sie hätte die Chance gehabt, Johannes Baldenau kennenzulernen, als er noch lebte …
Isabell wusste nicht, ob sie ihn gemocht hätte, den Fremden, der einen Teil von sich an sie weitergegeben hatte. Hatte sie mehr von ihm geerbt als nur ihr Aussehen? Vom Charakter her, von ihrem Denken und Fühlen kam sie weder auf ihre Mutter noch auf deren Eltern. Bisher hatte sie immer geglaubt, sie hätte viel von Jan …
Nein, Johannes Baldenau hätte kein Fremder bleiben müssen, und das musste der eigentliche Grund sein, weshalb Lydia ihr den Brief nicht ausgehändigt hatte. Ihre Mutter musste geahnt haben, dass Jan darin ihr Geheimnis preisgab – und sie hatte mit allen Mitteln verhindern wollen, dass Isabell von ihrem leiblichen Vater erfuhr. Wie immer hatte Lydia nur an sich selbst gedacht.
Eigentlich müsste man sie bedauern, so hartherzig und kalt, wie sie ist, überlegte Isabell. Weil sie nicht begreift, was sie sich selbst dadurch nimmt. Weil ihr Leben so leer ist.
Doch sie war viel zu zornig, um Mitleid mit ihrer Mutter zu empfinden.
***
Die Ereignisse
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