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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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dorthin? Wie weit ist es?«
    »Oh, wir werden uns erkundigen«, antwortete Jumar. »So genau weiß ich natürlich nicht, wo es ist, und vielleicht ist es nicht leicht zu finden. Aber es ist irgendwo hier in diesen Bergen.«
    »Ach was«, meinte Christopher, »da kann es sich ja nur um Wochen handeln, bis wir hinkommen.«
    Vielleicht war es gut, dass er nicht wusste, wie viel Wahrheit in seinen Worten lag.
    »Sag mal«, fragte Jumar später, »wie kommt es eigentlich, dass du so ... normal aussiehst? Hast du nicht erzählt, du wärst aus Holland oder Schweden oder so?«
    »Deutschland«, verbesserte Christopher.
    »Alles das Gleiche«, sagte Jumar. »Wieso bist du nicht groß und blond?«
    »Du meine Güte! Nicht alle Deutschen sind blond und trinken rund um die Uhr Bier vor dem Fernseher!«
    »Aber du siehst aus wie die Leute hier«, beharrte Jumar. »Ich habe oft am Fenster gestanden und die Touristen beobachtet, die über den Durbar Square gingen. Und ich kenne eine Menge von euren Filmen. Die Leute darin sind groß und plump und bewegen sich mit der Eleganz von Elefanten.«
    »Tatsächlich? Und ich?«
    »Du bewegst dich ganz normal, finde ich. Du hast die richtige Größe, und dein Gesicht ist nicht seltsam sondern auf die richtige Art geformt.«
    Christopher seufzte. »Da, wo ich herkomme, sehen die Leute das anders. Ich hatte diese Großmutter. Sie kam aus Nepal.«
    »Sprichst du deshalb unsere Sprache?«
    »Eure Sprache?« Bisher hatte Christopher überhaupt nicht darüber nachgedacht. Sprach er nepali? Anfühlen tat es sich wie deutsch.
    »Es muss an diesem Traum liegen«, murmelte er verwirrt. »Es ist ja nichts weiter. Nur ein Traum. In Träumen kommt das schon einmal vor, dass man plötzlich fremde Sprachen spricht. Es wird wirklich höchste Zeit, dass der Morgen kommt und ich aufwache.«
    Der Morgen jedoch kam nie, und die Auswüchse von Christophers Traum sollten für lange Zeit immer dunkler und beunruhigender werden, und der Strudel an Ereignissen, in den sie ihn rissen, weigerte sich standhaft dagegen, durch das Licht eines Sonnenstrahls in seinem Zimmer zu verblassen.
    Im Gegenteil: Der Traum, der keiner war, wurde wilder und wilder.
    Nach einer schier endlosen Zeit des Aufstiegs gaben die riesigen, schlingpflanzenbehangenen Bäume den Blick auf eine Hochebene frei, und ein hellgrüner Ozean aus Reisfeldern erstreckte sich vor ihren Blicken. In der Ferne lagen die braunen Dächer eines Dorfes. Ein Windhauch strich über die Reispflanzen, und als sich die Halme unter seinen sachten Fingern bogen, war es, als kräusle sich eine ungewöhnlich grüne Meeresoberfläche. Christopher blieb stehen und lauschte. Da war das Rieseln von Wasser, und dann war da noch ein Geräusch in der Luft – war das der Wind in den Zweigen des Urwaldes?
    Jumar sah ihn lauschen. »Was du hörst, ist die Bewässerung der Felder«, sagte er. »Der Reis steht im Wasser, und das Wasser läuft in Rinnen von einem Feld zum nächsten. Ich habe das System in einer meiner Unterrichtsstunden gelernt –«
    Christopher legte den Finger an die Lippen. »Das ist es nicht«, flüsterte er. »Hörst du jenes andere Geräusch? Über uns, in der Luft?«
    »Der Wind«, sagte Jumar gleichgültig, und seine Stimme wanderte an Christopher vorbei, aus dem Wald hinaus auf die Reisfelder. »Oder die Zikaden. Du machst dir zu viele Gedanken. Komm! Da vorne ist ein Dorf, und vielleicht finden wir dort etwas Essbares. Ich bin am Verhungern.«
    Christopher zögerte. Das Geräusch in der Luft war jetzt näher herangekommen. Es war wie ein winziges Zischeln, ein leises Rascheln, ein beunruhigendes Knistern, das sich heimlich heranschlich. Im Grün der Reisfelder sah er die bunten Tupfen einzelner Arbeiter, und auch sie richteten sich jetzt auf, um zu lauschen. Da war ein Zischen und Flattern in der Luft, als näherte sich ein Schwarm Vögel, ein riesiger Schwarm Vögel, Hunderte, Tausende –
    Der Wind war stärker geworden und die vielen winzigen Stimmen des Waldes verstummt.
    Christopher sah auf. War dort nicht etwas wie ein Umriss hoch oben über den Wipfeln der Bäume zu erahnen, in dessen Schatten er stand? Bewegte sich da nicht eine große Gestalt über ihn hinweg?
    Sekunden später sah er, wie die Menschen auf den Feldern begannen zu laufen. Sie rannten die schmalen Pfade zwischen den Reisfeldern entlang auf das Dorf zu, das Christopher in der Ferne entdeckt hatte: stolperten, fielen und rappelten sich wieder auf, und als eine der Frauen in einer

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