Drachen der Finsternis
Dichte zu verlieren schien.
Schließlich war er nur noch ein winziger grüner Punkt im Licht des Nachmittags, grün wie die Reisfelder, deren Farbe er gefressen hatte – und dieser Punkt entfernte sich nach Nordosten: dorthin, wo die höchsten Gipfel des Himalaja lagen, deren schnee- und eisbedeckte Spitzen in unerahnbarer Ferne warteten.
Die Gipfel warteten auf die Rückkehr des Drachen, und sie warteten noch auf etwas anderes, aber das war nur wieder eines dieser Gerüchte.
Sie gingen den Pfad zwischen den Feldern schweigend entlang.
Hinter ihnen lag der Urwald – immergrün und noch immer grün. Vielleicht würde der Drache seine Farben das nächste Mal fressen. Denn vor ihnen gab es keine Farben mehr. Die Felder starrten ihnen als schmutzig weiße Fläche entgegen, und in der Ferne reckte das Dorf mattschwarze Dächer in die Höhe. Nur dem Blau des Himmels schien der Drache nichts anhaben zu können. Es war zu weit weg.
Ein paar Mal wäre Christopher beinahe ausgerutscht und in das Wasser zwischen den Halmen gefallen, doch er fing sich jedes Mal gerade noch. Das Wasser zwischen den Halmen war von einem blassen, durchsichtigen Grau – wie das Wasser, in dem man einen Pinsel zu oft von zu vielen verschiedenen Farben gesäubert hat. Christopher vermied es, daran zu denken, was geschah, wenn man in dieses Wasser fiel.
Vermutlich nichts. Aber man konnte es nicht wissen.
Die Reispflanzen standen regungslos und stumm wie eine bloße Erinnerung ihrer selbst, und der schwarze Schlamm, der sich schmatzend an Christophers Turnschuhen festsog, wirkte matt und tot. In der Luft lag ein Gefühl unerklärlicher Trostlosigkeit, als vermisste die Welt ihre Farben. Christopher sah an sich hinab. Er trug ein rotes T-Shirt mit Red Hot Chili Peppers- Logo und blaue Jeans, und an diesem Nachmittag erschien ihm seine Kleidung das Schönste und Beruhigendste, was er je gesehen hatte.
Beinahe zärtlich strich er über den ausgeblichenen T-Shirt-Stoff – und in diesem Moment stolperte er über etwas. Er fluchte leise, obgleich er nicht gut war im Fluchen (Arne war besser gewesen), taumelte und hielt sich an Jumar fest, und gleich darauf lagen sie beide bäuchlings im grauen Wasser. Das Wasser hätte erfrischend kalt sein müssen in der heißen, stickigen Luft, doch es schien auch seine Temperatur verloren zu haben. Es war weder kalt noch warm. Es war gar nichts. Es fühlte sich nass an, aber nicht einmal besonders nass.
Als Christopher sich aufrappelte, hatte er Angst, auch sein T-Shirt hätte nun seine Farben verloren, aber bis auf einige graue Schlammreste, die daran klebten, war es rot wie zuvor.
Er blickte sich um – und in diesem Moment packte ihn die Einsamkeit wie eine Faust, die alles Leben aus ihm presste. Hier saß er, allein inmitten einer schwarz-weißen Landschaft ohne Freude und ohne Leben, und der einzige Farbfleck in dieser Einöde war er selbst.
Es gab keinen Weg, auf dem er in sein altes Leben zurückkehren konnte: in sein Zimmer voller bunter Poster und Tapeten, in dem das goldene Oktoberlicht in Pfützen auf dem Fußboden lag. Er war gekommen, um Arne zu finden, aber konnte er ihn finden?
War es möglich? War er nicht zu klein, zu jung, zu schwach und zu ängstlich dafür?
»He, Christopher«, sagte da eine Stimme neben ihm. »Was ist los? Träumst du?«
Christopher lächelte. »Ich fürchte, nein«, sagte er. »Und ich habe es eben erst eingesehen.«
Aber die Wärme kehrte langsam zurück in sein Herz, denn er war nicht allein, auch wenn es so schien. Hier, neben ihm, saß jemand im grauen Wasser, der genauso jung und genauso groß war wie er und genauso wenig Ahnung davon hatte, wie die Dinge weitergehen sollten.
»Sieh nur, über was du gestolpert bist!«, sagte Jumar.
»Hältst du es zufällig in der Hand?«
»Ja – und?«
Christopher seufzte. »In diesem Fall müsstest du es loslassen, damit ich es sehen kann.«
»Oh.«
Jumar ließ los, und Christopher erschrak, denn für einen Moment dachte er, da läge noch jemand neben ihm im Wasser. Dann sah er, dass dies kein Mensch war, sondern eine Figur aus toter Bronze. Sie musste zuvor auf dem Weg gelegen haben und mit ihnen ins Wasser gestürzt sein. Christopher betrachtete sie stirnrunzelnd.
»Was«, sagte er langsam, »tut eine Bronzestatue auf einem Pfad mitten durch die Reisfelder irgendeiner Hochebene?«
»Keine Ahnung«, sagte Jumar, der in seinen vierzehn Jahren gelernt hatte, dass es nichts nützte, nur mit den Schultern zu
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