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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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roten Bluse sich umdrehte, da glaubte er, das Entsetzen auf ihrem Gesicht zu sehen wie eine Maske: furchterregend und verzerrt.
    Irgendwo in seinem Inneren schloss sich eine kalte Faust um seine Eingeweide.
    »Jumar!«, rief Christopher. »Wo bist du? Komm zurück!«
    Aber er wartete nicht auf die Antwort. Er sprintete los, voran auf dem Pfad, der aus dem Wald hinausführte, stieß gegen einen unsichtbaren Körper und riss ihn zurück in den Schutz des Waldes. Schutz wovor?
    Keuchend stand er zwischen den Blätterarmen des Unterholzes und starrte mit Jumar zusammen auf die grüne Fläche der Felder hinaus, bis seine Augen brannten. In seinem Herzen aber brannte die Angst, die Angst vor dem Unbekannten.
    Und dann sahen sie den Schatten auf der grünen Oberfläche der Felder. Er bewegte sich darüber hinweg wie ein riesenhafter Fisch, und es war, als erzitterten die Halme unter seiner Berührung. Christopher hob seinen Blick zum blauen Himmel, doch der Himmel war nicht länger blau. Etwas bedeckte ihn – zuerst glich es einer bunten Wolke, aber die Wolke besaß eine Form. Sie besaß einen Kopf und zwei riesige Schwingen, sie besaß Klauen und einen peitschenden Schweif, und nun schien sie dichter als zuvor: Es war ein Drache.
    Ein Drache wie die, von denen Jumar gesprochen hatte.
    Ein Drache, der sich mit bunten Flügeln von den Gipfeln herabgeschwungen hatte.
    Ein Drache, der gekommen war, um zu vernichten.
    Er wand sich schillernd durch den Wind, beschrieb einen Bogen über den Feldern und riss mit riesigen, blitzenden Krallen an der Luft, als wollte er sie zerfetzen.
    »Also gibt es sie doch«, wisperte Jumar.
    Christopher nickte. Es gab sie, die Drachen, und hier, nur wenige Meter entfernt von ihnen, entblößte einer von ihnen seine volle, farbige Pracht.
    »Wie schön er ist«, flüsterte Christopher voller Überraschung. »Wie wunderschön!«
    Denn in den Menschen wohnt, verborgen in der Tiefe, die Überzeugung, alles Böse wäre hässlich und alles Gute schön, und es wird wohl nie jemand herausfinden, warum es so ist.
    Der Drache fegte einmal über die Hochebene hinweg und ließ sich dann darauf nieder, um seinen schlanken Kopf auf dem grazilen Hals in den Reis hinabzuneigen, als wollte er auf einer überdimensionierten Wiese grasen.
    »Was – was tut er?«, fragte Christopher.
    »Er frisst die Farben«, antwortete Jumar flüsternd. »Sieh nur!«
    Und Jumar hatte recht: Als sich der schillernde Drache langsam über die Felder vorwärtsbewegte, hinterließ er eine Spur schwarz-weißer Fläche. Es war, als verwandelte sich alles, was er berührte, in den Ausschnitt einer zweitklassigen Zeitung, gedruckt auf billiges, grobes Papier: Das leuchtende Hellgrün der Halme machte einem schmutzigen Hellgrau Platz, und das hölzerne Braun der nassen Bewässerungsrohre, in denen sich zuvor hier und da regenbogenfarbenes Sonnenlicht gespiegelt hatte, wich einem stumpfen Schwarz.
    »Wo sind die Menschen?«, fragte Christopher. »All die Menschen, die auf den Reisfeldern waren?«
    Sosehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte nirgendwo die rote Bluse der Frau entdecken, die er hatte davonlaufen sehen, und auch von den anderen Arbeitern war keine Spur mehr auf den Feldern auszumachen.
    »Vielleicht haben sie ihr Dorf rechtzeitig erreicht«, wisperte Ju-mar. Alles in Christopher drängte darauf, ihm zu glauben, doch er wusste, dass Jumar unrecht hatte. Auch mit den Menschen war etwas geschehen.
    Aber was?
    »Das ist noch nicht alles –«, hatte der alte Tapa zu Jumar gesagt, oder so hatte Jumar es zumindest erzählt. Es gab noch etwas, das man über die Drachen wissen musste, etwas außer der Tatsache, dass sie die Farben fraßen. Etwas, das womöglich die Menschen betraf.
    Der Drache ließ sich Zeit. Ab und an hob er den Kopf, pendelte ihn auf seinem langen Hals hin und her und beäugte seine Umgebung – und seine Augen waren beinahe das Beunruhigendste an ihm. Sie waren nicht da. Dort, wo er Augäpfel hätte haben sollen, Pupille und Iris, war nichts in seinem Kopf als dunkle Löcher. Alles an ihm war bunt und schön, bis auf diese Augen – oder die Stellen, an denen sie hätten sein sollen. Und dennoch schien er hervorragend zu sehen. Es war, als hätten seine Augen keinen Grund, als wären sie endlos, bodenlos, und alles, was er damit ansah, müsste in ihnen verschwinden.
    Ein Sog ging von ihnen aus – als Christopher von ferne diese Augen sah, kam es ihm vor, als stünde er an einem Abgrund, der ihn zu

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