Drachen der Finsternis
verschlingen drohte. Er suchte nach Jumars Hand.
»Glaubst du«, wisperte er, »er sieht uns?«
»Ich weiß nicht«, wisperte Jumar zurück.
Christopher machte einen Schritt nach hinten, tiefer in den Schutz des Urwaldes. Dann noch einen Schritt – und beim dritten Schritt trat er auf einen trockenen Ast, der mit einem leisen Knacken zerbrach. Hätten die Vögel gesungen wie sonst – die vielen, Abertausend Vögel mit ihren Abertausend Melodien –, hätten die Blätter gerauscht – die vielen, Abertausend Sorten von Blättern –, hätten die winzigen Bewohner des Waldbodens geraschelt wie sonst –, dann hätte niemand das Knacken auch nur wahrgenommen. Aber der Wald schwieg. Die Vögel waren verstummt, kein einziger sang mehr, die Blätter rauschten nicht, und die winzigen Waldbewohner saßen still in ihren Verstecken. Eine tödliche Stille hatte sich über den immergrünen Wald gesenkt.
Und in dieser Stille hallte das Knacken des winzigen, trockenen Astes wie ein ohrenbetäubender Gongschlag. Christopher erstarrte, und er spürte die Angst an Jumars Hand in der seinen. Der Drache hob den Kopf.
Er schwenkte seinen Hals einmal im Halbkreis und fixierte suchend den Waldrand. Christopher wagte nicht zu atmen. Er sah die leeren, schwarzen Augen des Drachen durchs Geäst wandern wie Suchscheinwerfer, wenngleich sie kein Licht ausstrahlten, sondern es einzusaugen schienen. Nach einer unendlichen Zeit des Beobachtens und Lauschens setzte der Drache sich in Bewegung. Seine Schritte waren von so vollendeter Eleganz, wie sein Flug in der Luft es gewesen war. Es war, als würde er durch die schwankenden Halme hindurchfließen, anmutig, beinahe schwerelos. Er knickte kaum eine Reispflanze mit seinen makellosen, schillernden Schuppen-Pranken. Und jene makellosen Pranken mit den makellosen Krallen trugen den Drachen auf den Waldrand zu. In Christophers Kopf gab es zwei Gedanken: weglaufen. Bleiben. Weglaufen. Bleiben.
Weglaufen wäre laut. Bleiben wäre leise. Weglaufen wäre aktiv. Bleiben passiv. Weglaufen wäre ein Versuch – ein sinnloser. Bleiben wäre sinnlos, ohne etwas versucht zu haben. Er fühlte, wie Jumar an seiner Hand zog. Sollte er –
Da blieb der Drache stehen, genau vor dem Waldrand.
Und es war Christopher, als sähe er ihn an.
Vielleicht konnten seine leeren Augen durch die seinen hindurchsehen. Vielleicht konnten sie in ihn hineinsehen, bis auf den Grund seiner Gedanken. Vielleicht konnten sie seine Angst als hellen, pulsenden Umriss dort erkennen. Vielleicht konnten sie sein Herz schlagen sehen und beobachten, wie es das Blut in hektischen Stößen durch seine Adern pumpte – vielleicht konnten sie den Tod dort ausmachen, als schimmernde Möglichkeit der nächsten Sekunden.
Christophers Mund war trocken, und seine Kehle brannte. Er wollte sich abwenden vom Blick des Drachen, wollte die Augen schließen – doch er konnte nicht. Die schwarze Leere hatte sich an ihm festgesaugt.
Nach einer Ewigkeit neigte der Drache den Kopf wie zu einem Nicken – einem Gruß –, aber wahrscheinlich war es nur eine unwillkürliche Bewegung des langen, wippenden Halses. Dann drehte er sich abrupt um und senkte sein Drachengebiss wieder ins verbleibende Grün des Reisfeldes, um weiter seine Farbe zu fressen.
Erst als Jumars Griff sich löste, merkte Christopher, wie fest er seine Hand umklammert hatte. Die Angst strömte langsam aus jeder Pore seines Körpers und hinterließ ein kribbelndes Gefühl der Abwesenheit. Er hätte sich gerne auf einen Stuhl fallen lassen, aber es war kein Stuhl da – und überhaupt war es besser, noch ein Weilchen reglos stehen zu bleiben.
Und so blieben sie stehen, lange, lange Zeit verharrten sie im schattigen Schutz der riesigen Urwaldblätter: zwei verschüchterte kleine Tiere, die sich nicht mehr aus ihrem Unterschlupf herauswagen. Christopher spürte Jumars Körper dicht an den seinen gedrängt, und er wusste nicht, wer von ihnen für das Zittern verantwortlich war.
Schließlich entfaltete der Drache seine Schwingen mit einem Knistern wie von Millionen winziger Blätter von Seidenpapier, warf mit seinen abgründigen Schwarzaugen einen letzten Blick in die Runde und faltete dann den langen Hals wie ein Reiher. Er war jetzt grüner als zuvor.
Die Klauen, die sich vom Boden abstießen, hinterließen keine Spuren dort. Christopher sah zu, wie der Drache in den blauen Himmel aufstieg, sich höher und höher hinaufschraubte und dabei wieder auf eine unerklärliche Weise an
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