Drachen der Finsternis
Faust, die hat mehr Gewicht –
Und dann kauerte er hinter der Statue, reglos, die Knie angezogen, neben ihm Jumar:
Die Schritte, die sich auf der Straße näherten, gingen vorüber.
Wer die Faust nicht erhebt, den sieht man nicht.
Sie saßen lange, lange so: still. Reglos. Nichts als zwei Schatten in einem alte Schrein.
Die Tränen versiegten.
Irgendwann versiegen die Tränen immer.
Irgendwann ist man von innen gänzlich trocken.
»Wir müssen zum Durbar Square«, wisperte Jumar. »Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Kämpfer in den Straßen auftauchen. Besser, wir warten dort.«
Doch so weit kamen sie nicht.
Chaos hatte der Thronfolger Nepals vorausgesagt. Er hatte es gesagt, ohne zu wissen, was es bedeutete.
Chaos.
Sie hatten den orangefarbenen Gott unter dem heiligen Baum noch nicht lange verlassen, als sie die ersten Schüsse hörten. Christopher blieb stehen, doch Jumar zog ihn weiter.
Eine unsinnige Erinnerung tauchte in ihm auf: Silvester. Arne kniete vor einer Flasche im Schnee, in der der hölzerne Hals einer Rakete steckte. Um sie herum knallten bereits die ersten Böller, die ersten Raketen, und Arne schüttelte missbilligend den Kopf.
Er war vielleicht zehn Jahre alt, Christopher, fünf, an der Hand seines Vaters, stand in der Auffahrt und starrte die Rakete an.
»Vor Mitternacht darf man doch noch keine Raketen zünden!«, sagte der zehnjährige Arne mit allem Ernst der Welt, und Christopher bewunderte seinen erwachsenen Ernst. Sein Vater lachte.
»Vielleicht gehen ihre Uhren falsch?«, vermutete er.
Doch Arne wartete, bis seine eigene Uhr, eine Armbanduhr, auf deren großem Zeiger Speedy Gonzales im Kreis lief und die Christopher später erben würde, als er in die zweite Klasse kam –Arne wartete, bis es auf seiner Uhr Mitternacht war, bis Speedy Gonzales durch das ersehnte Ziel bei der zwölf lief, und erst dann zündete er die erste Rakete. Christopher sah es noch genau vor sich: Wie sie in den Himmel stieg, wie sie zerbarst, einer reifen Frucht gleich, und ihre leuchtenden Samen in den Nachthimmel spritzten: Sie war grün gewesen und rot.
Aber dies, dies waren Schüsse, keine Silvesterknaller, und irgendwo jenseits der Schüsse saß Arne auf den Stufen des größten Tempels und wartete auf sie.
Zuerst kamen die Schüsse von draußen, von vor der Stadt, dann kamen sie vom Zentrum, und schließlich konnte Christopher nicht mehr sagen, woher sie kamen: Sie waren überall, und bald hörte er auch das Laufen von Füßen, hörte Rufe – er lief Ju-mar nach durch leere, dunkle Gassen, doch niemand hinter den Mauern der Häuser schlief.
Sie alle waren wach, sie alle lauschten, beobachteten, zitterten.
Und dann waren die Gassen, durch die sie rannten, nicht länger leer. Ein Trupp Männer rannte an ihnen vorbei, ohne sie zu bemerken, verschwand – die Lichter von Autoscheinwerfern strichen suchend über die Wände. Sie drückten sich eng an eine Mauer, geblendet, doch die Lichter meinten nicht sie, das Motorengeräusch kroch an ihren angstvoll geschlossenen Augen vorbei und wurde leiser. Sie liefen weiter, dicht an den Mauern entlang, geduckt, von Schatten zu Schatten.
»Wie weit?«, keuchte Christopher. »Wie weit noch?«
Doch Jumar hatte keine Gelegenheit zu antworten. Ein Geschoss sauste an ihnen vorbei und schlug in die Wand gegenüber ein, und als wäre dies der grandiose Auftakt zum wirklichen Theaterstück, füllten sich die Straßen mit Gestalten. Schatten, erst huschend, verstohlen, schließlich immer mehr, unübersehbar ihre Figuren in der Nacht, und schließlich schien es keinen mehr zu scheren, wer wen sah. Und das Chaos, das Nepals Kronprinz geahnt hatte, begann.
Uniformen glänzten im Licht von Taschenlampen. Befehle wurden gebrüllt. Pferdehufe hetzten über das Pflaster. Das Knattern von Gewehren löste den Gleichschritt einer Gruppe von Füßen auf, zerstreute Schritte flohen panisch. Wer war Angreifer in dieser Nacht, und wer war Angegriffener? Wer war Jäger, und wer war Gejagter? Die Grenzen verwischten. Die Nacht schien sich zu winden wie der Körper eines riesigen, umrisslosen Untiers – zerteilt von den Lampen, den Scheinwerfern, zerrissen von Schreien, von denen niemand wusste, aus welcher Richtung sie kamen.
Wer sich von den Bewohnern der Stadt in dieser Nacht auf die Straße traute, wurde nie wieder gesehen. Türen wurden verriegelt, Höfe lagen leer im Mondschein.
Und wie gerne hätte auch Christopher sich versteckt, hätte den Kopf in den
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