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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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begann, als wollte es in ihm zerspringen und nichts als Scherben zurücklassen.
    »Wir müssen etwas tun«, wisperte Jumar. »Irgendetwas. Wir müssen ihnen folgen.«
    Christopher nickte. »Wir dürfen sie nicht im Stich lassen«, flüsterte er. Die Starre wich, und seine Füße bewegten sich jetzt von alleine, ohne dass er wusste, wohin er lief. Seine Füße schienen es zu wissen. Der Hof, der hinter dem Tor lag, wurde wie alle Höfe in Kathmandu eingekreist von hohen Gebäuden mit umlaufenden Baikonen. Die ganze Stadt war ein Labyrinth aus Baikonen, Veranden, flachen Dächern und Außentreppen, und in dieses Labyrinth trugen Christopher seine Füße. Sie fanden weiß getünchte Stufen, die in die Höhe führten, die blind endeten –liefen wieder abwärts, eilig, gehetzt. Er umrundete den Häuserblock, entdeckte eine andere Treppe, und diese Treppe bot einen Weg auf einen Balkon. Jumars Schritte hetzten hinter ihm her. Da waren weitere Stufen, hinauf, hinauf: ein Flachdach, Eimer, Matratzen, zum Lüften ausgelegt, ein alter, vergessener Besen aus lose zusammengebundenem Reisig –
    Christopher sah sich um.
    »Die Richtung, Jumar«, flüsterte er. »Welche Richtung?«
    Doch Jumar hatte schon begriffen und lief voraus. Die Welt der flachen Nachbardächer taumelte an Christopher vorbei, er folgte Jumar, sprang von einem Dach aufs andere, tauchte unter Wäscheleinen hindurch und hörte in seinem Kopf Niyas Stimme, die lautlos seinen Namen rief: Christopher, Christopher.
    Und dann hatten sie das Dach erreicht, das an den Hof grenzte. Sie warfen sich nebeneinander auf den Bauch, robbten bis nach vorne an die Kante und spähten hinunter. Und Christopher wünschte eine egoistische Sekunde lang, sie hätten das richtige Dach niemals gefunden.
    Ja, das dort unten war einer der Stützpunkte, die die Kämpfer in der Stadt besaßen.
    Christopher zählte zwölf Männer im Hof.
    Zwölf Männer und ein Mädchen mit kurzem schwarzem Haar.
    Er tastete nach Jumars Hand und spürte, dass er zitterte vor Zorn.
    Niya lag auf dem Boden, seitlich, zusammengekrümmt wie ein Embryo. Sie war vollkommen nackt, und ihr Körper war blutverschmiert. Das Bild brannte sich in sein Gedächtnis ein und würde nie wieder daraus verschwinden. Einer der Männer hockte vor Niya. Er hielt etwas zwischen den Fingern, etwas Kleines, Braunes – ein Stück Holz. Und als er sprach, erreichten seine Worte auch die beiden Beobachter auf dem Dach.
    »Was ist das?«, fragte er laut und deutlich, als spräche er zu einer Schwerhörigen.
    Niya antwortete nicht.
    Der Mann sog an seiner Zigarette. »Sag uns, was es ist und wo die anderen sind, die mit dir gekommen sind«, verlangte er. Man konnte hören, dass er diesen Satz nicht zum ersten Mal zu ihr sagte. Niya schwieg. Christopher sah, wie sich ihr Brustkorb hob und senkte. Sie atmete. Doch sie schwieg.
    Der Mann streckte die Hand mit der glimmenden Zigarette aus und drückte sie ohne Eile auf der Wange seines Opfers aus. Christopher schloss die Augen, fühlte einen jähen Schmerz in sich – als wäre er es, der dort unten läge, hilflos, allein. Niya gab noch immer keinen Laut von sich.
    Feigling, schimpfte Christopher sich selbst im Stillen. Er zwang sich, die Augen wieder zu öffnen.
    »Erzähl uns von eurem Plan«, sagte der Mann, zündete sich eine neue Zigarette an und blies ihr den Rauch ins Gesicht. Sie hob ihren Kopf, nur kurz.
    Doch es reichte, um Christopher die Spuren sehen zu lassen, die die unbeantworteten Fragen der Männer in ihrem Gesicht hinterlassen hatten. Später versuchte er, nicht daran zu denken. Aber die Bilder kamen wieder. Später sagte man ihm, er müsste sich erinnern, um zu vergessen, und beschreiben, um auszulöschen. Doch er fand nie den Mut oder die Worte, und er beschrieb nie, was er in dieser Nacht dort unten im Hof sah.
    Er sah nicht Niya. Er sah nur ihren Schmerz.
    »Wir haben Zeit«, sagte der Mann. »Dies ist erst der Anfang. Dies ist gar nichts. Du weißt das. Besser, du sprichst.«
    Er streckte die Hand abermals nach ihr aus – und Christopher schaffte es wieder nicht hinzusehen. Er ließ seinen Blick schweifen – und entdeckte, dass auf dem Balkon unter ihnen ein Mann stand und die Szene im Hof beobachtete. Es war ein kleiner Mann, und als er jetzt auf dem Balkon auf und ab zu gehen begann, da waren seine Bewegungen flink und geschmeidig. Er blieb wieder stehen, schüttelte bedauernd den Kopf und sagte schließlich: »Ich habe dich nicht aus den Trümmern des Feuers

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