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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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einem zum anderen und rechnete ihre Chancen aus. Sie standen schlecht.
    Der aus dem Basislager sprach jetzt zu ihr. Sie sah seinen Mund auf und zu klappen, doch es dauerte, bis die Worte in ihr Bewusstsein drangen.
    »Hast du gedacht, wir erkennen dich nicht wieder, wenn du dir die Haare abschneidest und barfuß läufst wie ein Bettler?«, fragte er. »Ich hätte dich für schlauer gehalten, Mädchen. Der große T lässt seit Langem nach dir suchen. Eine Verräterin darf man nicht einfach so laufen lassen. Es gab eine Menge böses Blut im Lager, nachdem du verschwunden warst.«
    Er lächelte ein Lächeln, das Niya nicht gefiel. »Aber jetzt bist du ja wieder da, nicht wahr?«
    Niya wand sich vergebens im Griff der beiden Männer, die sie hielten.
    »Lasst mich los«, zischte sie, und ihre Augen sprühten Blitze. »Der große T hat heute Abend anderes zu tun, als sich mit mir zu beschäftigen. Lasst mich gehen. Ich habe euch nichts zu sagen.«
    »Oh, das glaube ich aber doch«, erklärte der Mann aus dem Lager. »Ich glaube, du hast uns einiges zu sagen. Was du hier tust, zum Beispiel.«
    Niya biss sich auf die Lippen und schwieg.
    Er hob ihr Kinn an und sah in ihre blitzenden Augen. Doch auch Niya wusste, dass ihr jetzt nicht einmal die Glut ihres Blickes mehr nützte.
    »Nehmt sie mit«, sagte der Mann und drehte sich um, um vorauszugehen.
    Sie versuchte ein letztes Mal, sich zu befreien, trat, biss und kratzte, ein wildes Tier der Berge, doch eine Faust landete in ihrem Magen, und gleich darauf fand sie sich auf dem Boden wieder, im Staub der Gasse. Die Tritte hagelten auf sie ein wie ein Versprechen, das sich erfüllt.
    Sie hatte es längst geahnt.
    Schließlich wehrte sie sich nicht mehr, lag ganz still, den Kopf mit den Armen schützend. Und tief innen wurde sie hart, wurde zu Eisen, zog sich einen Panzer an, durch den niemand hindurchdringen konnte, stählte sich gegen den Schmerz.
    Die Männer zogen sie hoch und schleiften sie mit sich wie einen leblosen Gegenstand.
    Hinter den Fenstern, an denen sie vorüberkamen, sah Niya Augen. Augen im Schatten, Augen im Dunklen. Niemand kam ihr zur Hilfe. Sie schleiften sie nicht weit. Bereits zwei Straßen weiter öffnete sich das Tor zu einem Hof, und jemand ließ sie ein.
    »Sie denken, all unsere Leute warten außerhalb der Stadt«, sagte der Mann aus dem Lager. »Aber ich hoffe, du bist nicht so dumm wie Kartans Leute? Du musst gewusst haben, dass auch die Stadt Augen und Ohren hat, die uns berichten.«
    Niya wandte den Kopf noch einmal, ehe sie sie durch das Tor stießen. Am Ende der Gasse entdeckte sie zwei Gestalten, die außer ihr niemand sah. Und sie nahm ein winziges Fünkchen Hoffnung mit hinter das Tor, unstet und flackernd. Aber es war da.

Arne in einer letzten Erinnerung
    Christophers Taschen waren leer. Er krempelte sie nach außen, und nur ein paar Krümel fielen heraus – Krümel von Rinde, die nach Wacholder roch und eine ferne Erinnerung an Weihnachten barg.
    Er machte sich auf den Weg zur Stadtmitte, zum Durbar Square, zum Platz vor dem Palast, wo die hölzernen Tempel auf ihren breiten Stufen standen und warteten. Er hatte Bilder von ihnen gesehen ... jemand tippte ihm auf die Schulter, und er wirbelte herum, bereit zuzuschlagen, bereit fortzulaufen, bereit zu schreien, wenn nötig –
    »Jumar«, keuchte er.
    Jumar grinste. »Sieht so aus«, erwiderte er leise. »Bist du alles losgeworden? Ist alles gut gegangen?«
    Christopher nickte, sein Blick fragend, und Jumar nickte auch: Alles war in Ordnung.
    Sie gingen die Gasse gemeinsam hinab. Der Himmel rötete sich schon, und die Gassen der inneren Stadt waren jetzt beinahe leer: Mit Sonnenuntergang würde die Ausgangssperre in Kraft treten, die seit Wochen über Kathmandu hing wie ein drohendes Schwert.
    Wer dann noch unterwegs war, wurde vogelfrei, ein Feind für die Soldaten. Sie mussten sich beeilen.
    »Hier entlang«, flüsterte Jumar. »Durch diese Gasse geht es schneller.«
    Doch einen Moment später blieb er abrupt stehen und presste sich eng an die Hauswand. Christopher tat es ihm gleich. Und dann sah auch er, was Jumar gesehen hatte:
    Niya.
    Zwei Männer in den Jacken und Stiefeln der Kämpfer schleiften sie die Gasse entlang, von Jumar und Christopher fort; zwei andere folgten. Ehe Christopher einen klaren Gedanken fassen konnte, öffnete sich ein Tor in der Mauer und verschlang die Männer und Niya.
    Einen Augenblick blieben sie reglos stehen.
    Christopher spürte, wie sein Herz zu rasen

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