Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
Eine dünne Tafel, die um etwas gefaltet war. Vielleicht ein kleiner Stein. Buchstaben und seltsame Symbole waren in das Blei geritzt. Nur schwer zu erkennen, denn das Metall war sehr dunkel und die Ritzzeichen vom langen Tragen des Amuletts fast abgerieben. Sie kniff die Augen zusammen. Sie kannte diese Schriftzeichen. In langen Stunden hatte sie sich in der Weißen Halle mit diesem Alphabet abgemüht. Sie waren Luwisch, und nun wusste sie, was in das Blei gegraben stand: der Name der Devanthar, die von den Luwiern angebetet wurde, Išta!
Ihr wundert Euch über das Amulett, Dame Nandalee? Der Frühlingsbringer in seinem Schuppenkleid von der Farbe jungen Grases neigte sein Haupt und sah freundlich auf sie hinab. Sie spürte in seinen Gedanken den Nachklang der Trauer, aber auch die Gewissheit, mit dem, was sie nun taten, auf Jahrhunderte Frieden in alle drei Welten tragen zu können. Ihr werdet unter Menschenkinder gehen, Nandalee. Viele von ihnen tragen Amulette wie dieses hier. Sie ritzen Götternamen und Segenssprüche in das Blei, falten es und vergraben es oder tragen es ganz offen als Amulett. Dieser Schmuck wird unter den Menschenkindern kein Aufsehen erregen.
»Sollte uns nicht einer unserer Brüder aus der Blauen Halle begleiten?«, fragte Nandalee. »Viele von ihnen haben etliche Jahre unter Menschen verbracht. Sie kennen ihre Angewohnheiten und Gebräuche. Sie wären ein große Hilfe.«
Sie sind alle tot, Dame Nandalee. Gemeinsam mit dem Himmlischen gestorben. Und jene Meister der Blauen Halle, die in der Welt der Menschen dienen, erreichen wir nicht mehr. Es gilt, das Schlimmste zu befürchten. Ihr werdet also auf Euch allein gestellt sein, und Ihr werdet Zugang zu einem Ort suchen, den noch kein Elf zuvor betreten hat, und von dem es heißt, dass er von schrecklichen Ungeheuern bewacht wird. Es ist ein Ort, über den wir nur Legenden kennen.
Und dann schilderte der Frühlingsbringer Nandalee, wohin sie gehen sollten und was dort zu tun war. Verzweiflung überfiel die Elfe, denn dies war keine Aufgabe für Sterbliche.
G eisterwald
Bidayn blickte zweifelnd zu Nandalee auf. Ihre Freundin hatte ihr gesagt, sie würde spüren, wann der rechte Augenblick gekommen sei, den Albenstern zu öffnen, und ihr genau beschrieben, welchen der sieben Pfade sie danach beschreiten sollte. Es war ein ungewöhnlicher Weg, der lange von keinem anderen Albenpfad gekreuzt wurde und der sie in weite Ferne führen würde, fort aus ihrer Heimatwelt. Doch wohin, hatte Nandalee nicht gesagt.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Gonvalon Nandalee flüchtig mit der Hand streifte. Es war eine Geste der Liebe, um sie wissen zu lassen, dass er hinter ihr stand, ganz gleich, was auch geschehen mochte. Die beiden hatten sich verändert. Man sah ihnen ihre Verbundenheit an. Bidayn spürte einen kurzen, scharfen Schmerz. Sie würde niemals solche Liebe erfahren. Welcher Mann wollte schon eine Frau, deren ganzer Leib mit einem Rautenmuster aus Narben bedeckt war.
Sie hatte sich die Wunden zugezogen, als sich die Zaubermacht Nangogs gegen sie gewandt hatte. Seitdem hatte sie alles versucht, die Narben verblassen zu lassen. Doch kein Heilkraut, keine Tinktur und kein Zauber vermochten ihr Stigma auszulöschen. Allein dick aufgetragene Schminke half.
Bidayn seufzte und konzentrierte sich wieder auf den Albenstern. Die Himmelsschlangen hatten sie weit hinaus in die Savanne des Bainne Tyr geschickt. Sie glaubten, ihre Feinde würden leichter auf sie aufmerksam werden, wenn sie eine Reise an einem Ort begannen, der in Verbindung mit den Götterdrachen stand. Und so standen sie nun im ersten Morgenlicht inmitten des weiten Graslandes neben einer weißen Felsnadel, die von Dutzenden flac her Holzschalen umlagert wurde, in der sonst Kobolde ihren Göt zen und den Geistern der Savanne Opfergaben darbrachten. Eine halbe Meile entfernt zog eine Gazellenherde vorüber, deren Leittiere wachsam in ihre Richtung spähten. Noch vor dem ersten Morgenlicht hatten sie einen Löwen brüllen hören, doch der Räuber war im hohen Gras verborgen geblieben. Die Raubkatze machte Bidayn keine Sorgen, doch troff ihr kalter Schweiß von den Achseln hinab, wenn sie daran dachte, welche Feinde sie an dem Ort erwarten würden, an den Nandalee sie führen sollte. Die Devanthar! Bidayn erinnerte sich noch gut an die Kreatur mit dem Eberkopf, der sie auf Nangog begegnet war, und daran, wie hilflos sie sich ihm gegenüber gefühlt hatte. Doch dann war Nandalee gekommen.
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