Drachenelfen
man es ausspricht und dabei an einen Ort denkt, den man einmal besucht hat, zeigt das Fenster dir diesen Ort, dem deine Gedanken gelten, ganz gleich wie fern er ist.«
Bidayns Scheu war gewichen. Fasziniert betrachtete sie das Fenster. Lyvianne musste an jene Nacht denken, in der sie zum ersten Mal hierhergekommen war.
»Warum ist das Fenster hier versteckt? Es ist doch ein wunderbares Geschenk! Alle sollten es nutzen können. Man könnte nach Hause schauen!«
»Du weiÃt, dass man Magie nicht leichtfertig nutzen darf. Das Fenster hat auch eine dunkle Seite ⦠Die Drachen benutzen es. Sie vermögen uns durch dieses Fenster zu sehen. Sie können in unseren Gedanken lesen, wenn wir davorstehen. Sie können uns Befehle geben. Manchmal schicken sie uns einen Boten, der den Befehl bringt, dass einer von uns hierherzukommen hat. Allein. Und da ist noch etwas ⦠In meinem dritten Jahr als Schülerin ist ein älterer Mitschüler, mit dem ich im Speisesaal am selben Tisch saÃ, durch dieses Fenster gezogen worden. Er muss einen Fehler gemacht haben, als er das Wort der Macht aussprach und seinen Zauber wob, so glauben die meisten. Unsere Lehrer damals sagten, er wurde hindurchgezogen. Niemand vermochte ihm zu folgen. Er wurde nie wiedergefunden. Deshalb lehren wir unsere Schüler nicht mehr jenes Wort der Macht, das die Kräfte des Fensters weckt. Erst wenn du eine Drachenelfe geworden bist und dich in vielerlei Gefahr bewährt hast, wirst du es lernen. Dieses
Fenster hier ist einer der Gründe, warum viele Schüler die Bibliothek meiden.«
Bidayn blickte noch immer unverwandt auf das schillernde Glas. »Aber das ist doch kein Grund, nicht hierherzukommen. Man muss das Fenster doch nur in Ruhe lassen.«
»Vielleicht genügt das nicht.« Lyvianne zögerte. Bidayn war sensibel und hatte eine groÃe magische Begabung. Und sie war neugierig. Sie würde wieder hierherkommen. Es war besser, wenn sie alles wusste. Sie wollte sie nicht verlieren. Sie war so leicht zu beeinflussen. Noch ⦠Eines Tages mochte sie eine machtvolle Zauberweberin werden.
»Es gibt da noch eine andere Geschichte, und wir Lehrer sind angehalten, sie nicht zu erzählen. Vielleicht ist es einfach nur eine Geschichte, und es ist nichts Wahres daran â¦Â« Es war Bidayn anzusehen, dass sie alles wissen wollte. Lyvianne kannte dieses Gefühl zwischen Neugier und angenehmem Grusel nur allzu gut. »Also dann ⦠Mit den Artefakten, die Drachen erschaffen, hat es eine ganz besondere Bewandtnis. Du weiÃt, dass jedes der Völker Albenmarks auf ganz eigene Art Magie webt? Bei den Drachen ist es so, dass die Dinge, die sie erschaffen, stets eigene Charakterzüge entwickeln. Manche gehen sogar so weit, sie in magischem Sinne als belebt zu betrachten. Die Zauber, die sie weben, sind so stark und greifen so tief in die natürliche Struktur des magischen Netzes ein, dass etwas Neues entsteht. Etwas, das sich den üblichen Gesetzen der Zauberei entzieht. Nimm zum Beispiel die Schwerter in unserer Eingangshalle. Ein jedes verfügt über eine besondere Eigenschaft. Eines scheint die Angriffe der Feinde vorausahnen zu können und hilft dir, sie zu parieren. Ein anderes kehrt von alleine immer zu seinem Besitzer zurück. Ein drittes hat die Eigenart, die Klingen der Gegner zu brechen. Die Waffen unterscheiden sich also nicht nur in der Form.«
»Es gibt da ein sehr groÃes Schwert, einen Bidenhander. Welche Eigenart hat er?«
»Warum? Was interessiert dich an ihm?«
Bidayn senkte verlegen den Blick. »Er war besonders auffällig und ⦠Ich dachte nur â¦Â«
Lyvianne konnte spüren, dass noch mehr hinter der Frage steckte, aber sie entschied, dem nicht weiter nachzugehen. »Reden wir nicht von diesem Schwert. Es ist eine verfluchte Waffe, die ihrem Namen alle Ehre macht. Ich wünschte, es würde die WeiÃe Halle nie mehr verlassen. Und damit sind wir auch schon wieder bei dem Fenster. Manche glauben, ein Fluch hafte an ihm und etwas Dunkles sei in den Zauber eingeflossen, als die Drachen es erschaffen haben. Vor allem für begabte Zauberweber scheint es gefährlich zu sein. Es heiÃt, das Fenster würde sie rufen â mit einer Stimme, die nur der Gerufene zu hören vermag. Nachts, in den dunkelsten Stunden. Dann öffnet es sich von ganz allein und zeigt Dinge, die einem den Verstand zerrütten können, und manchmal
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