Drachenwege
an dem kürzlich fertig gestellten Schacht vorbeiführte. Natalon hatte angeordnet, dass die Stollen an einer bestimmten Stelle nicht weiter ins Gestein getrieben werden durften, damit sie nicht unterhalb des Sees verliefen; hier hätte immer die Gefahr eines Wassereinbruchs bestanden.
Das Flöz war von einer außerordentlichen Mächtig-keit, und indem die Kumpel die Strecken anlegten, gruben sie gleichzeitig gewaltige Mengen Kohle aus. Dadurch schufen sie große Hohlräume, wobei sie strikt darauf achteten, in bestimmten Abständen Säulen aus Kohle stehen zu lassen, die die Firste stützten. Seit die Kohlefelder, die im Tagebau ausgebeutet werden konnten, erschöpft waren, gab es nur noch die Möglichkeit, die Schächte und Stollen immer tiefer zu graben, um an abbaufähige Felder zu gelangen.
Jede Strecke folgte dem nach unten streichenden Flöz, der sich tief unter das Gebirge absenkte. Kindan wusste, dass die älteren Strecken durch viele Quer-schläge miteinander verbunden waren, und demnächst wollte man mit dem Aushub eines neuen Strebs beginnen, um Abzweige zu den jüngst geschrämten Strecken zu schaffen.
»Hier sind die Leuchtkörbe beinahe ausgebrannt«, bemerkte Kindan und betrachtete ein matt glimmendes Geleucht.
»Tatsächlich? Mir wäre das gar nicht aufgefallen«, kicherte Nuella. Kindan schnaubte durch die Nase, weil er sich von ihr auf den Arm genommen fühlte.
»Wieso läufst du schon wieder vorneweg?«, beklagte er sich.
Nuella breitete beide Arme aus. »Du kannst ruhig zu mir aufschließen«, schlug sie vor. »An dieser Stelle ist der Gang breit genug, damit wir nebeneinander gehen können.«
Kindan legte einen Schritt zu und eilte an Nuellas Seite. Kisk trödelte nicht, sondern drängte sich in die Mitte.
»Gleich kommt eine Biegung«, warnte er, als sie die neu angelegte Strecke erreichten.
»Ich weiß«, erwiderte Nuella lakonisch.
Kindan verzichtete darauf, sie zu fragen, woher sie ihr Wissen bezog. Mittlerweile war ihm klar, dass Nuella Veränderungen an der Umgebung bemerkte, indem sie ihre ohnehin geschärften Sinne anstrengte.
Am Klang der Schritte, an einem Luftstrom oder an einem spezifischen Geruch merkte sie, was rings um sie her vorging. Mitunter konnte er es kaum glauben, dass sie blind war, so sicher bewegte sie sich.
Nuella bog nach rechts in die neue Strecke ab.
»Warte!«, rief Kindan ihr zu.
»Warum?«, wollte sie wissen, blieb jedoch stehen.
»Es gibt hier ziemlich viele Stützbalken«, erklärte er.
»Ich möchte mir einen Überblick verschaffen.« Kritisch musterte er die wuchtigen hölzernen Stempel, die die Firste abstützten. Im Abstand von einem Meter befanden sich jeweils drei durch Querbalken verstärkte Stempel. Er ging ein paar Schritte in den Gang hinein und sah, dass das Ende des Tunnels einen ähnlich massiven Ausbau besaß. »Dieser Stollen scheint mir stärker gesichert zu sein als üblich«, erklärte er Nuella.
»Mein Vater meint, dass ein neu gegrabener Gang immer besonders sorgfältig abgestützt werden muss«, erwiderte sie. »Neulich geriet er deshalb mit Onkel Tarik in Streit. Onkel Tarik behauptete, mein Vater wäre zu ängstlich, und man könnte das kostbare Holz sparen und woanders einsetzen. Aber Vater hielt ihm entgegen, man könnte nicht vorsichtig genug sein. Doch Onkel Tarik blieb dabei, es sei eine Verschwendung an Material, Zeit und Arbeitskraft, eine Stelle dreifach zu sichern, wenn ein einziger Stempel genügte.«
»Ich kann mir vorstellen, wie er argumentierte. Er weiß immer alles besser und wirft seinen Kameraden vor, sie seien faul.«
Als sie die neue Strecke entlang gingen, bemerkte Kindan den soliden Ausbau. Hier glühte frisches Myzel in den Leuchtkörben, vermutlich, weil die Bergleute für ihre Arbeit ausreichend Licht brauchten.
Zügig marschierten sie weiter. In der Mitte des Tunnels verliefen Schienen, auf denen die Grubenwagen fuhren. Einmal stolperte Nuella über einen Holzpflock, der ein Stück aus dem Boden hervorragte, doch sie gewann sofort das Gleichgewicht wieder. Ihre entschlossene Miene hinderte Kindan daran, ihr anzubieten, sie an die Hand zu nehmen.
Nach knapp fünfzig Metern endeten die Schienen. An den Stollenwänden sah Kindan die Spuren von frisch gebrochener Kohle.
Sicheren Schrittes bewegte sich Nuella durch den Gang, wobei sie die rechte Hand ausgestreckt hielt. Sie blieb stehen, als ihre Finger die Wand mit der noch eingeschlossenen Kohle berührten. Behutsam tastete sie die Stelle ab.
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