Drachenwege
die Gelegenheit bekam, nach Lust und Laune umherzustreifen. Im Grunde musste sie sich eingesperrt fühlen, denn ihre Bewe-gungsfreiheit war stark eingeschränkt. Vermutlich verbrachte sie viel Zeit damit, durch ihr Elternhaus zu streifen, das ja beachtliche Ausmaße hatte. In dieser festungsähnlichen Behausung fand sie indes genug Gelegenheit, in aller Ruhe jeden Winkel zu durchstöbern und zu erforschen. Kein Wunder, wenn sie dort jede Ecke genauestens kannte und sich mit nachtwandleri-scher Sicherheit in dem Geheimgang zurechtfand. Ehe er einschlief, dachte er mit einem Anflug von Neid daran, wie sicher sich das Mädchen in dem stockfinsteren Tunnel bewegt hatte.
* * *
»Sie ist wirklich gewachsen«, staunte M'tal, als er Kisk in dem verdunkelten Schuppen in Augenschein nahm. Drei Tage nach der getrommelten Botschaft traf der Weyrführer in Camp Natalon ein. Er hatte eine Menge zu erzählen. Die hohen Berge, in denen der Benden Weyr lag, waren bereits tief verschneit. Schnee machte den Drachen und ihren Reitern nichts aus, denn die Weyr befanden sich in den Kratern erloschener Vul-kane, und an diesen Stellen gab es immer noch heiße Quellen und natürliche Wärme im Boden.
Die Pächter jedoch, die während der fädenfreien Zeit irgendwo in der Umgebung in ihren Hütten lebten, wurden durch die winterlichen Witterungsverhältnisse mitunter schwer beeinträchtigt. Eine besondere Gefahr bildeten die heftigen Schneestürme. M'tal und seine Drachenreiter hatten eine volle Siebenspanne damit verbracht, Menschen zu retten, die durch den Schnee von der Außenwelt abgeschnitten waren und denen die Vorräte ausgingen.
Mit großen Augen lauschte Kindan den Schilderun-gen des Weyrführers von Benden. Er hatte noch nie gehört, dass ein Drachenreiter von Telgar sich die Mühe gab, Menschen zu bergen, die durch eine Natur-katastrophe in Bedrängnis geraten waren. Man hielt es einfach nicht für nötig, Patrouillenflüge zu organisieren, um nachzuschauen, ob jemand Hilfe brauchte. Aber nachdem Kindan D'gan, den Weyrführer von Telgar, persönlich kennen gelernt hatte, verstand er den Grund.
M'tal und D'gan waren von ihrer Persönlichkeit her so verschieden wie Tag und Nacht.
»Du sagst, ein Wachwher kann noch in tiefster Finsternis etwas sehen?«, wandte sich M'tal an Kindan.
»Drachen besitzen diese Fähigkeit nicht.«
»Ja, ich konnte mich selbst davon überzeugen ...«, hob der Junge an und hätte sich gleich darauf am liebsten auf die Zunge gebissen. Auf keinen Fall wollte er verraten, dass Nuella einen Geheimgang kannte, der von Natalons Haus unter Tage in die Grube führte. »Ich glaube, sie ist bald so weit, dass man sie zur Arbeit in der Mine einsetzen kann«, fügte er hastig hinzu.
M'tal tätschelte Kisk freundlich und strich ihr mit der Hand über den wulstigen Leib. »Ein Wachwher besitzt einen anderen Körperbau als ein Drache«, erläuterte er.
»Er ist kompakter gebaut und hat mehr Muskeln - so weit ich es fühlen kann. Kisk scheint mir voll ausgewachsen zu sein. Und ihre Haut juckt niemals und wird auch nicht spröde?«
Kindan schüttelte den Kopf. »Nein, damit hat sie keine Probleme.«
M'tal seufzte. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe von meinem Gaminth behaupten.«
»Wir wüssten gern«, mischte sich nun Meister Zist in das Gespräch ein, »ob es in den Weyrn irgendwelche Aufzeichnungen über Wachwhere gibt. Jede Informa-
tion ist von Nutzen und könnte uns helfen, Kisk richtig auszubilden.«
Nachdenklich rieb sich M'tal das Kinn. Dann schürzte er die Lippen. »In Benden befindet sich nichts der-gleichen, dessen bin ich mir sicher. Hast du es schon mal in der Harfnerhalle versucht? Vielleicht wird dort Material über Wachwhere aufbewahrt.«
Meister Zist deutete ein Lächeln an. »Meine Nachfrage kreuzte sich mit einer Botschaft aus der Harfnerhalle, in der man mich bat, sämtliche Informationen über Aufzucht, Pflege und Training von Wachwheren zur Verfügung zu stellen.«
»Anscheinend ging das Wissen über diese Geschöpfe im Lauf der Zeit verloren.« M'tal zog die Stirn kraus.
»Das gefällt mir ganz und gar nicht. Wachwhere und Drachen gingen aus denselben Züchtungsversuchen hervor, sind also miteinander verwandt. Offenbar erfüllten die Where einmal einen ganz bestimmten Zweck. Die Unterlagen über diese Tiere hätte man auf jeden Fall aufbewahren müssen.« Behutsam spreizte er Kisks unterentwickelte Schwingen. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie mit diesen
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