Dracula, my love
das Panorama zu betrachten, das sich vor uns ausbreitete. Die Sonne stand tief am Himmel und warf einen rosigen Schein über die Kirche und die Abtei auf der fernen Klippe gegenüber. Als Lucy dies alles sah, blickten ihre Augen in die Weite, und sie sagte in verträumtem Ton: „Wie seine roten Augen! Genau so!“
Ich starrte sie verdutzt an. Zum ersten Mal hatte ich gehört, wie Lucy „rote Augen“ erwähnte, die Augen, die ich zweimal in meinen Träumen und einmal oben auf der Klippe gesehen hatte, als sich in jener Schreckensnacht die Gestalt über Lucy gebeugt hatte. Ihr Gesichtsausdruck war so seltsam, dass ich ihrem Blick folgte. Sie starrte über den Hafen zur Ostklippe, und ihre Augen schienen sich auf die Bank zu richten, die wir erst vor kurzem verlassen hatten. Ich konnte eine einzelne dunkle Gestalt ausmachen, die nun dort saß, und ich erschrak, denn trotz der großen Entfernung schien es, als hätte der Fremde Augen so rot wie leuchtende Flammen. Eine Sekunde später war diese Illusion vergangen, als hätte die rotglühende Abendsonne sie herbeigeführt.
„Lucy, was hast du damit gerade gemeint?“
Lucy zwinkerte, als sei sie aus einem Tagtraum erwacht. „Was?“
„Du hast etwas über einen Mann mit roten Augen gesagt.“
„Wirklich?“ Sie stieß ein merkwürdiges Lachen aus und schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, warum ich das gesagt habe.“
Ich glaubte ihr nicht, aber sie verlor kein Sterbenswörtchen mehr darüber.
Ganz gleich, wie sehr ich mich bemühte, ich konnte nicht aufhören, an Herrn Wagner zu denken. Den lieben langen Tag wanderten meine Gedanken immer wieder zu den Gesprächen, die wir geführt hatten, und dazu, wie ich mich gefühlt hatte, als er mich beim Walzer in den Armen hielt.
In jener Nacht schloss ich Lucy in unsere Kammer ein, nachdem sie im Bett lag und fest schlief. Es war mir nur zu bewusst, wie skandalös ich mich verhielt, als ich mich danach in der Hoffnung, Herrn Wagner wiederzusehen, zum Pavillon schlich. Zu meiner großen Enttäuschung erschien er nicht, obwohl ich recht lange dort ausharrte. Da ich nicht den Wunsch verspürte, mit einem anderen zu tanzen, ging ich wieder und spazierte eine Weile an der Westklippe unter dem hell strahlenden wunderschönen Mond umher.
Als ich zu unserer Pension zurückkehrte, schaute ich auf und erblickte zu meinem Erstaunen Lucy im Tiefschlaf, den Kopf an unser offenes Fenster gelehnt. Neben ihr auf dem Fenstersims saß etwas, das wie ein großer schwarzer Vogel aussah. Wie merkwürdig, dachte ich. Man sah ja nachts nicht oft Vögel, insbesondere im Sommer, ausgenommen natürlich Nachtvögel wie Eulen. Trotzdem war ich nicht sonderlich beunruhigt. Bis ich die Treppe hinaufgeeilt war, die Tür aufgeschlossen und das Zimmer betreten hatte, war das Geschöpf verschwunden.
„Lucy? Geht es dir gut?“, erkundigte ich mich, denn sie kroch gerade mit bleicher Miene und schwer atmend ins Bett zurück und hielt dabei die Hand an den Hals gedrückt, als wolle sie sich vor Kälte schützen. Sie antwortete nicht. Ich deckte sie liebevoll zu. Aber ich spürte, dass sie sogar im Schlaf irgendeinen Kummer hatte. Ich fragte mich, was das wohl sein mochte.
Am nächsten Morgen beim Frühstück war Lucy ungewöhnlich müde und sah blasser aus als je zuvor. Während sie lustlos in ihrer Mahlzeit herumstocherte, brachte die Pensionswirtin einen Brief, der soeben eingetroffen war. Lucys Miene hellte sich auf, als sie sah, dass er von Arthur war.
„Arthur schreibt, dass sich sein Vater gegenwärtig besser fühlt“, verkündete Lucy mit stiller Freude. „Er sagt, dass er in ein oder zwei Wochen zu Besuch kommen kann und hofft, dass die Hochzeit recht bald stattfindet.“
„Wie wunderbar“, erwiderte ihre Mutter. Plötzlich traten Frau Westenra Tränen in die Augen, und sie bestand darauf, dass es Freudentränen seien. Später jedoch, als Lucy am Nachmittag ein Nickerchen machte, tranken Frau Westenra und ich Tee im Salon. Da entdeckte sie mir die Wahrheit über ihre Gefühle zu dieser Angelegenheit.
„Wie Sie wissen, ist Lucy mein einziges Kind“, sagte die freundliche Dame, während sie sich mit einem Seufzer in den Sessel zurücklehnte, „und wir waren einander immer sehr nah. Es schmerzt mich ungeheuer, dass ich sie nun verlieren werde. Allein der Gedanke, dass sie schon bald eine Ehefrau sein und mich nicht mehr so wie früher brauchen wird! Trotzdem bin ich erleichtert und dankbar, dass sie schon bald einen neuen
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