Dracula, my love
nicht einmal meiner Gegenwart bewusst zu sein. Plötzlich begriff ich, was hier geschah.
Ich war schon Jahre zuvor, als wir noch zur Schule gingen, bei verschiedenen Gelegenheiten Zeugin dieses seltsamen Benehmens geworden. Eines Nachts, als es schneite, war Lucy aus dem Bett aufgestanden und nach draußen gegangen, mit bloßen Füßen und im Nachtkleid. Glücklicherweise war sie damals von einer Bediensteten gefunden worden, ehe sie erfror. Die Frau hatte sie zum Aufwärmen an das Kaminfeuer gesetzt und dann wieder zu Bett gebracht. Ein anderes Mal hatte sich Lucy ihren besten Mantel und Hut angezogen und war die Treppe hinunter in die Küche gegangen, wo sie ein großes Stück Apfelkuchen aß und ein Glas Milch trank, ehe man sie entdeckte. Am nächsten Morgen hatte sie, wenn überhaupt, stets nur eine sehr verschwommene Erinnerung an diese Vorfälle.
„Lucy, meine Liebe“, sagte ich nun, während ich ihr die Hände auf die Schultern legte und in die leeren Augen blickte, „es ist mitten in der Nacht. Du musst wieder zu Bett gehen. Lass mich dir beim Auskleiden behilflich sein.“
Zu meiner Erleichterung widersetzte sie sich nicht. Beim Klang meiner Stimme, vielleicht auch bei der Berührung meiner Hände schien ihre Absicht völlig zu schwinden, und sie ließ sich willig von mir helfen. Es gelang mir, sie zu entkleiden, ihr das Nachtkleid überzustreifen und sie erneut zu Bett zu bringen, alles, ohne sie aufzuwecken.
Beim Frühstück am nächsten Morgen war Lucy unverändert fröhlich, plauderte unbekümmert, als hätte sich in der vergangenen Nacht nichts Außergewöhnliches ereignet. Ich lachte leise und erzählte Lucy und ihrer Mutter von dem Geschehnis.
„Schlafwandeln?“, antwortete Lucy mit einem überraschten Lachen, während sie fortfuhr, Butter und Marmelade auf ihren Toast zu streichen. „Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich das zum letzten Mal gemacht habe.“
Frau Westenra nahm diese Neuigkeit nicht mit der gleichen Belustigung auf wie wir. „O je“, sagte sie und legte ihre bleiche Stirn in Sorgenfalten, während sie an der Perlenkette nestelte, die sie um den Hals trug. „Diese alte Angewohnheit von dir, liebe Lucy, hat mich immer mit Angst und Schrecken erfüllt. Und dass sie ausgerechnet jetzt wieder aufleben soll, da wir uns an einem wenig vertrauten, neuen Ort befinden ...“
Frau Westenra war eine kleine rundliche Dame von fünfundvierzig Jahren. Es war unschwer zu sehen, wem ihre Tochter die Schönheit zu verdanken hatte, denn beide besaßen die gleichen lieblichen Gesichtszüge, die gleichen tiefblauen Augen, blonden Locken und den gleichen glatten Elfenbeinteint. Frau Westenra wandte sich zu mir und fügte hinzu: „Diese Neigung hat sie von ihrem Vater geerbt. Auch Edward pflegte mitten in der Nacht aufzustehen, sich anzukleiden und auszugehen, wenn ich ihn nicht rechtzeitig weckte, um ihn davon abzuhalten. Einmal fand ihn nachts ein Polizist, wie er in seinem besten Sonntagsanzug durch den St. James's Park spazierte. Ein andermal, als wir auf dem Land weilten, trug er um zwei Uhr früh seine ganze Angelausrüstung zum Fluss und wollte fischen.“
Lucy lachte. „Daran erinnere ich mich. Der dumme Papa.“ Dann verflüchtigte sich ihr Lächeln, und ihre Augen wurden feucht, während sie an ihrem Kakao nippte. „Oh, wie ich ihn vermisse.“
„Dein Vater war ein wunderbarer Mann“, stimmte ich ihr zu.
Frau Westenra schüttelte traurig den Kopf. „Nie hätte ich gedacht, dass ich allein Zurückbleiben würde. Ich war mir stets gewiss, dass ich als Erste gehen würde. Der liebe, gute Edward.“ Plötzlich füllten sich ihre Augen mit Tränen, und sie griff über den Tisch hinweg nach Lucys Hand. „Dem Himmel sei Dank, dass Lucy in den vergangenen anderthalb Jahren bei mir zu Hause war. Wie es mir nach ihrer Heirat ergehen mag, weiß ich wirklich nicht.“
Lucy legte ihre zweite Hand auf die ihrer Mutter und sah ihr tief in die Augen. „Mama, gut wird es dir ergehen. Arthur und ich werden nicht weit weg von dir wohnen, und wir werden dich so oft besuchen kommen, dass du kaum merken wirst, dass ich überhaupt fortgegangen bin.“
Frau Westenra betupfte sich mit der Serviette die Augen. „Das will ich hoffen, meine Liebe. Ich freue mich sehr für dich, Lucy, und ich hoffe, dass du glücklich wirst.“
Mutter und Tochter lächelten einander liebevoll an. Ein warmes Gefühl der Zuneigung zu den beiden erfüllte mich, und doch verspürte ich gleichzeitig
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