Dracula, my love
unwillkürlich einen kleinen Stich des Neides. Es war ein großer Kummer in meinem Leben, dass ich niemals die Freuden genossen hatte, die einem Kind die Liebe einer Mutter oder eines Vaters beschert. Diese dunkle Seite meiner Vergangenheit war mir schon als Kind eine Quelle der Schande gewesen, und immer noch errötete ich beim bloßen Gedanken daran vor Scham.
„Jetzt lasst uns aber über die Hochzeit sprechen“, sagte Frau Westenra, die ihre Lebensgeister wiederfand und einen winzigen Happen von ihrem Rührei kostete. „Ich denke, dass du und Arthur so bald wie möglich heiraten solltet.“
„Warum die Eile, Mama? Heutzutage sind doch lange Verlobungszeiten durchaus üblich. Selbst du und Papa, ihr habt ein ganzes Jahr gewartet, ehe ihr euch vermählt habt, nicht wahr?“
„Ja, aber damals lebten wir in völlig anderen Verhältnissen. Dein Vater hatte alle Hände voll zu tun mit seinem gerade gegründeten Bankgeschäft, und er wollte, dass alles erst reibungslos lief, ehe wir einander das Jawort gaben. Derlei finanzielle Einschränkungen hat Arthur nicht. Er ist sehr wohlhabend. Als einziger Sohn wird er eines Tages Ring Manor erben, und dazu noch alle Ländereien und Besitztümer seines Vaters. Es gibt also keinen Grund auf Erden, warum ihr noch warten solltet.“ Frau Westenra sprach mit einer solchen Dringlichkeit, dass ich das Gefühl hatte, hinter ihrem Wunsch, Lucy rasch verheiratet zu sehen, könnte womöglich noch ein anderer Grund stecken. Doch sie fügte nur hinzu: „Jedenfalls ist September ein herrlicher Monat für eine Hochzeit.“
„Nun, ich warte ab und höre mir an, was Arthur dazu zu sagen hat, wenn er kommt“, antwortete Lucy artig.
„Und was ist mit dir, Mina?“, erkundigte sich Frau Westenra. „Wann und wo möchtet ihr euch vermählen, du und Jonathan? Habt ihr schon Pläne geschmiedet?“
Ich zögerte und antwortete dann ernst: „Wir haben eigentlich von einer Hochzeit, natürlich nur einer sehr schlichten Feier, im Spätsommer in Exeter gesprochen, aber nun bin ich mir nicht mehr so sicher.“ Ich berichtete ihr von Jonathans Geschäftsreise nach Transsilvanien und erklärte ihr, dass sich seine Rückkehr sehr verzögerte und ich schon lange keine Nachricht mehr von ihm erhalten hatte. „Irgendetwas an seinem letzten Brief macht mich stutzig. Er ist zwar in seiner Hand geschrieben, aber er klingt völlig fremd.“
„Hast du dich schon an seinen Arbeitgeber gewandt?“, fragte Frau Westenra.
„Ja, das habe ich gemacht. Herr Hawkins hat auch kein Sterbenswörtchen von ihm gehört.“
Lucy und ihre Mutter versuchten ihr Möglichstes, um meine Ängste zu vertreiben, doch unter den gegebenen Umständen gab es nicht viel, was sie mir zum Trost hätten sagen können. Nach dem Frühstück schlug Lucy vor, wir sollten noch einmal zur Ostklippe hinaufspazieren. Ihre Mutter, die außer Atem zu geraten schien, wenn sie nur vom Speisezimmer in den Salon ging, bat uns, sie zu entschuldigen. Ehe Lucy und ich das Haus verlassen konnten, nahm mich Frau Westenra heimlich beiseite und sprach leise und eindringlich zu mir.
„Mina, vor Lucy wollte ich nichts sagen, aber ich bin außerordentlich besorgt um sie.“
„Warum ängstigen Sie sich so sehr?“
„Es geht um ihre alte Angewohnheit, das Nachtwandeln. Diese Neigung kann sehr gefährlich sein. Erzähle ihr bitte nichts von unserer Unterredung, aber du musst mir versprechen, sie stets im Auge zu behalten und nachts die Tür zur eurer Kammer zu verschließen, sodass sie diese nicht verlassen kann.“
In dem festen Glauben, dass ich Lucy vor allem Unheil würde beschützen können, gab ich Frau Westenra feierlich mein Wort. Oh! Wie sehr sollte ich mich getäuscht haben!
An jenem Nachmittag kehrten Lucy und ich zu dem Friedhof oben an der Ostklippe zurück, wo wir freundlich mit einem altersgekrümmten, ehemaligen Seemann plauderten, einem gewissen Herrn Swales, der angab, beinahe hundert Jahre alt zu sein. Er und seine beiden Kameraden waren von Lucys Anblick derart entzückt, dass sie sich dicht neben uns setzten, kaum dass wir uns auf unserer Lieblingsbank niedergelassen hatten. Lucy stellte ihnen grüblerische Fragen zu ihren vergangenen Abenteuern auf See, wo sie mit der Grönländischen Fischereiflotte gefahren waren, und zu ihren glorreichen Taten während der Schlacht von Waterloo.
Mich interessierten Geschichten über Whitby weitaus mehr. Doch als ich das Gespräch in diese Richtung zu lenken versuchte, beharrte der alte
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