Drahtzieher - Knobels siebter Fall
Stirn. Am Himmel zuckte ein Blitz.
»Wir sind zu zweit, Herr Knobel, oder haben Sie Angst?«
Hermann van Eyck zog Stephan an der Strickjacke.
»Das Gewitter ist nur eine düstere Kulisse«, lächelte er. »Wir sind doch keine Kinder mehr. Also los!«
Er ging voran, trat auf ein Beet, streckte seine Hand aus, zog Stephan nach und ging entschlossen auf die Sträucher zu.
»War es hier?«, fragte er und sah sich zu seiner Frau um.
Anne van Eyck stand mit verschränkten Armen da und sah regungslos zu.
»Mehr links«, rief sie knapp.
Ihr Mann orientierte sich in die vorgegebene Richtung, bog Geäst zur Seite und zwängte sich durch das Strauchwerk. Stephan folgte ihm auf jeden Schritt. Die Luft schmeckte unvermittelt feucht, obwohl es noch nicht richtig regnete. Einige dicke Tropfen fielen wie Kugeln auf die Erde, träge und schwer. Der Himmel war grau und bleiern. An der Strickjacke blieben zahllose Insekten und Blütenpartikel haften. Hermann suchte wie besessen, sah hinter jeden Strauch, bückte sich und kroch in das Gebüsch, kam zurück, umrundete mit Stephan den nächsten weit ausladenden Strauch, und dann endlich sahen sie es: zertretenes Gras, abgeknickte Äste im Gesträuch und sich hinten in den Wald verlierende schleifende Spuren. Herr van Eyck sah Stephan ins Gesicht, dann schüttelte er den Kopf und stellte sich auf den Platz, auf dem augenscheinlich jemand ausgeharrt hatte. Er bog die Zweige etwas zur Seite, sodass der Blick nach vorn frei wurde, und sah einige Meter vor sich seine Frau Anne und weit hinten die Hintertür zu ihrer Wohnung.
»Sie hatte wohl recht«, schnaufte er leise, fasste Stephan am Arm und sah mit ihm gemeinsam in den Wald. Es war niemand zu sehen. Der Sturm jaulte laut durch die Baumkronen. Das helle Grün der im Wind tanzenden Blätter hob sich unwirklich von dem treibenden Grau des Himmels ab. Jetzt begann es heftig zu regnen. Sie zwängten sich durch das Dickicht in den Garten zurück. Herr van Eyck legte den Arm um die Schulter seiner Frau. Eigentümlich langsam folgten sie Stephan ins Haus, der vorweg gerannt war und den beiden die Tür aufhielt. Als Hermann van Eyck und seine Frau das Haus erreichten, waren sie bereits durchnässt.
Frau van Eyck hielt zitternd ihre Arme vor die Brust.
»Wir wollen uns nicht verrückt machen«, sagte sie mit einem bemühten Lächeln. »Es muss nichts heißen.«
»Du weißt, dass wir alle anders denken«, erwiderte ihr Mann. Er streichelte und massierte sie sanft. »Es war richtig, der Sache nachzugehen.«
Er blickte zu Marie, die sich mit fragendem Gesichtsausdruck genähert hatte.
»Es war jemand im Garten und hat offensichtlich länger an einer Stelle verweilt, von der aus er uns ungestört beobachten konnte«, meinte Herr van Eyck. »Keine Ahnung, warum, aber es ist so. Vielleicht nur ein harmloser Zeitgenosse, dem es Freude macht, in die Gärten anderer Leute zu schauen. Wie auch immer: Er muss einen weiten Weg auf sich genommen haben, denn unser Hof ist weit und breit das einzige Haus.«
Anne van Eyck löste sich von ihrem Mann und zog sich ins Schlafzimmer zurück, wo sie ihre nasse Kleidung wechselte. Ihr Mann entledigte sich lediglich des Pullovers, den er draußen übergezogen hatte. Das T-Shirt darunter war leidlich trocken geblieben, und er setzte sich nachdenklich an den eingedeckten Tisch.
»Man neigt schnell zu Hirngespinsten«, sagte er, während er ein Stück Brot kaute. »Vielleicht ist die Einsamkeit hier draußen nicht immer gut. Wäre das Ganze in irgendeiner Siedlung passiert, hätte man es gar nicht zur Kenntnis genommen und wäre zur Tagesordnung übergegangen. Hier tut man das nicht so ohne Weiteres. – Sehen Sie«, er atmete tief durch, und seine Stimme wurde kräftiger, »so sehen Sie Licht und Schatten unseres kleinen Idylls nahe beieinander – und das im Wortsinne.«
Draußen strebte das Unwetter seinem Höhepunkt zu. Der Regen peitschte prasselnd an die Fenster. Aus dem dunklen Himmel zuckten Blitze, die hinter den dichten Regenschleiern auf den Fensterscheiben wie ausgefranste grell-weiße Schlaglichter in das trübe Grau stachen, denen in Sekundenschnelle knallende Donner folgten. Anne van Eyck kam zurück. In Gedanken versunken begannen sie zu essen. Es war kein belastendes Schweigen, sondern eine wohltuende Stille, in der man sich beieinander fühlte und verstand. Als Marie und Stephan eine knappe Stunde später den Hof verließen, hatte sich das Unwetter verzogen. Aus den Bäumen rieselte noch
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