Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
des Klosters. Ambrosius erkenne ich ziemlich weit hinten, er wirkt älter in dieser würdigen Umgebung, er hat etwas Unnahbares, fast Reines – kaum zu glauben, von ihm gerade mit Fisch bewirtet worden zu sein.
Am nächsten Morgen nach der Terz treffe ich im blendend weiß gekalkten Kreuzgang Ambrosius und erzähle ihm, dass ich ihn gestern abend fast beneidet hätte, wie er dort vor dem Altar im Schoße seiner Gemeinschaft von Glaubensgenossen saß. Der da weiß, wo er hingehört, hatte ich gedacht, der weiß, wo es langgeht im Leben auf Erden und im Leben danach, sein Weg ist ihm so eindeutig vorgegeben wie der alltägliche Gebetsstundenplan, alles hat seine feste Ordnung, Zweifel sind ausgeschlossen, auf jede Frage gibt es eine klare Antwort – herrlich!
»Viele, die uns hier besuchen, empfinden so wie du«, sagt der junge Mönch, »die Leute glauben, sie hätten alles, aber bei uns merken sie, was ihnen draußen fehlt.« Dem Novizen, der im nächsten Jahr sein Gelübde auf »Armut, Keuschheit und Gehorsam« ablegen will, ist es nicht anders ergangen. »Ich war ein ganz normaler Junge, habe Fußball gespielt, bin in Discos gegangen, und onaniert habe ich auch.« Aber irgendwann hat ihn der »Zwang zur totalen Befriedigung aller Wünsche« immer unzufriedener gemacht. »Ich wollte raus aus dieser endlosen Glücksspirale«, sagt er und lächelt ein wenig zu milde für seine einundzwanzig Jahre. Auf der Suche nach einem Ausweg hat er während der Pubertät mit den Terroristen sympathisiert, deren Bereitschaft zur hemmungslosen Gewalt ihm dann doch unheimlich wurde, anschließend überrollte ihn die Poona-Welle, schließlich überzeugte ihn »der wahre Aussteiger Jesus Christus«. Also auch ein Flüchtling, der die Realität nicht akzeptieren kann, denke ich, und noch dazu einer, der mir auf so zweifelhafte Weise sympathisch ist wie gestern Abend mein Spiegelbild. Arm und keusch laufe ich ja auch schon eine ganze Weile unter meiner Regenkutte herum, entsage trotzig meiner Welt, und wenn Ambrosius das Kreuz des Herrn willig auf sich geladen hat, so schleppe ich halt das Joch meines Rucksacks.
Kaum sind wir im Kreuzgang einmal im Quadrat gegangen, da läutet die Kirchenglocke die nächste sonntägliche Gebetsstunde ein. Aus allen Richtungen eilen die Mönche herbei, formieren sich zum doppelreihigen Gänsemarsch und verschwinden, der Abt vornweg und Ambrosius als Schlusslicht hinterher, durch eine schmiedeeiserne Tür in Richtung des Gotteshauses.
Im Empfang erlaubt mir der Pförtner ein kurzes Telefongespräch. Der Stimme nach ist Freda noch im Bett. Im Hintergrund höre ich klassische Musik. »Wie geht’s?« fragt sie knapp und scheint gar nicht so freudig überrascht von meinem Anruf, wie ich das erwartet habe. »Es geht«, antworte ich, »bin jetzt im Westerwald.« »Sagt mir wenig – ist das am Rhein?« »Nicht direkt«, sage ich und habe Mühe zu erklären, wo ich hier eigentlich bin, »mitten im Wald, so zwischen Köln und Frankfurt – wo wollen wir uns treffen?« Freda erzählt mir, dass sie demnächst mit der Bahn nach Italien fahren will, da könnte sie doch die Reise für ein paar Tage unterbrechen. »Genaueres schreib ich dir noch postlagernd nach Frankfurt.«
Ohne den Feiertag zu heiligen, mache ich mich gleich auf die Socken nach Frankfurt. Sonntage sind für mich ohnehin Feiertage, an denen es nichts zu feiern gibt, denn die Geschäfte sind zu und auf den Straßen quält sich der zermürbende Wochenendverkehr. Die Leute in den Dörfern und Kleinstädten, in Hachenburg, Alpenrod und Westerburg, tragen ihren sauberen Sonntagsstaat spazieren, was den Kontrast zu meinen abgerissenen Klamotten noch stärker werden lässt als sonst.
Der wievielte Sonntag mag das nun sein, seit ich Hamburg verließ? Der siebte, der achte oder gar der neunte? Je weiter ich zurückrechne, desto mehr verschwimmen die Wochen. Dem Gefühl nach bin ich schon Jahre unterwegs, hinter mir liegt eine Ewigkeit. Habe ich je etwas anderes gemacht in meinem Leben als laufen, laufen, laufen, ist der Rucksack nicht längst ein Teil meines Körpers geworden, sind die speckig gegriffenen Riemen nicht längst auf den Schultern festgewachsen? Die Suche nach etwas Essbarem, der prüfende Blick in die Obstgärten, die Bäckereien, die Abfallcontainer hinter den Wochenendmärkten, das gespielt schüchterne Fragen nach einem Platz im Heu, in der leeren Garage oder meinetwegen auch im Bett, dies alles ist mir längst zur blinden Gewohnheit
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