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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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gingen abwechselnd nach vorne. Am Schluss Giulietta. Der Beifall erschlug sie. Sie schaute wie geblendet über diese Menschenmasse, die ihr Glückwünsche und Hochrufe entgegenschleuderte. Darauf war sie nicht vorbereitet. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie schaute zu ihren Eltern. Ihre Mutter stand dort und applaudierte mit hoch erhobenen Händen. Der Sitz neben ihr war leer. Aber daran konnte sie jetzt nicht denken. Sie versuchte, ihrer Mutter ein Lächeln zu schenken, aber ihr Gesicht gehorchte ihr nicht. Zwei Reihen hinter ihrer Mutter winkte ihr eine Frau zu und klatschte hingerissen. Frau Ballestieri! Giulietta trat in die Reihe zurück und ging mit der Gruppe gemeinsam an den Orchestergraben vor. Vier weitere Vorhänge folgten. Und stets zerfloss der rhythmische Beifall bei Giuliettas Verbeugung zu einem tosenden Meer aus Applaus, Bravo- und Zugabe-Rufen. Zwei weitere Vorhänge brachten noch immer keine Erschöpfung. Beim fünften Vorhang war Heert auf der Bühne erschienen und wurde nun gleichermaßen beklatscht. Beim siebten Vorhang hob er plötzlich die Arme und wartete geduldig so lange, bis Ruhe eingekehrt war. Die Zuschauer blieben verwundert stehen. Manche nahmen erwartungsvoll wieder Platz. Eine Zugabe? Wohl kaum. Eher eine Ansprache?
    Heert drehte sich kurz zu seinem Ensemble um. Die Tänzerinnen und Tänzer standen in einer Reihe. Mit geröteten Gesichtern und glücklich über ihren Erfolg. Was hatte er vor? Viviane. Wahrscheinlich würde er jetzt Viviane holen.
    Aber stattdessen gab er plötzlich ein Zeichen in Richtung Tonregie und verließ die Bühne. Im gleichen Augenblick erklangen die ersten Takte von
Escualo
.
    Wie hatte er ihr das nur antun können? Giulietta schaute verwirrt um sich. Die Gruppe machte einige Schritte nach hinten und überließ ihr die Bühne.
    Seine Warnung zu Beginn der Aufführung! Wenn du Musik hörst, dann tanzt du. Enttäusche mich nicht. Er wollte, dass sie
Escualo
tanzte? Aber das konnte sie doch nicht. Nicht hier. Nicht jetzt. Es war ihr Gespräch mit Damián, das keinen etwas anging.
    Doch sie konnte Heert nicht hängen lassen. Ihm verdankte sie diesen Abend. Diesen grandiosen Erfolg. Sie war ein Nichts. Ein Niemand. Nur er hatte etwas Besonderes in ihr gesehen. Und das wollte er zeigen. Das konnte sie ihm nicht abschlagen.
    Und vielleicht war es auch das Allerbeste. Dieses Gespräch mit ihm, mit ihrem Halbbruder, mit ihrem Geliebten. Vielleicht sollte es hier sein Ende haben, auf dieser Bühne. Ein letztes Mal sein Gesicht sehen, wie es sich in ihre Erinnerung eingegraben hatte damals, im
Chamäleon
. Seine Bewegungen, in die sie sich sofort verliebt hatte. Sie waren jetzt ein Teil von ihr. Der katzenhafte Gang, die heimtückische Zartheit seiner Drehungen, das Suchende, Grüblerische, Verzweifelte seiner Tempiwechsel. All das würde ihr von ihm bleiben. Und dessen brauchte sie sich auch nicht zu schämen, hier in diesem Theater, vor zweitausend Leuten, die vermutlich ihre Tränen sahen, während sie die Figuren dieser unmöglichen Liebe auf das Parkett zeichnete. Figuren, die alle seinen Namen trugen, auch wenn da keiner war, der das hätte lesen können. Es würde ihr Abschied sein, ihr Tango für Damián.
    Doch was sie nicht ertrug, war der Beifall. Sie sah kaum etwas durch ihre verweinten Augen, als sie sich am Ende zur Verbeugung erheben wollte. Und dann verlor sie völlig die Kontrolle. Sie begann zu schluchzen. Sie versuchte sich zusammenzureißen, aber was da aus ihr hervorbrach, ließ sich nicht bändigen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und rannte zur Seite weg. Heert fing sie auf. Er war fassungslos.
    »Giulietta, was ist denn? Hör doch den Applaus.«
    Viviane trat hinzu. Dann Theresa. Im Nu war sie von einem Dutzend Menschen umringt, die ihr gratulieren wollten. Und noch immer verging der Beifall nicht. »Giulietta, bitte, reiß dich zusammen. Du musst noch einmal hinaus«, sagte Viviane. Aber sie schüttelte den Kopf. Gleich würde sie ersticken. Sie konnte nicht mehr. Sie bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden und stolperte auf den Bühnenausgang zu. Sie vernahm noch Heerts Stimme: »Die Gruppe … los, noch einmal Verbeugung und dann Vorhang. Schnell.« Dann hörte sie die schwere Eisentür hinter sich zufallen und war endlich draußen. Zwei Techniker schauten sie erstaunt an, als sie tränenüberströmt an ihnen vorbeilief. Es kümmerte sie nicht. Nichts mehr kümmerte sie. Nur weg hier.
    Sie riss die Tür zu ihrer Umkleide auf und

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