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Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Drei Minuten mit der Wirklichkeit

Titel: Drei Minuten mit der Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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nirgendwo dein Name. Hier steht Juliana Echevery.«
    Ihr Vater erstarrte in der Bewegung.
    Er schaute nicht zu ihr auf.
    Giulietta fixierte ihre Mutter.
    »Aber das ist mein Name, Mama.«
    Ihr Vater hob langsam den Kopf und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. Dann ergriff er ihre Mutter am Arm und wollte sie zur Tür ziehen. »Ein Pseudonym, Anita, ein Künstlername. Komm, Giulietta muss sich fertig machen.«
    Er drängelte sie weiter, aber Anita blieb störrisch stehen.
    »Was soll denn das?«, fragte sie. »So ein Unsinn. Wie sollen denn unsere Freunde jetzt wissen, welche Rolle du tanzt? Warum brauchst du denn plötzlich einen anderen Namen?«
    Giulietta musterte ihren Vater. Aber er schaute zur Seite weg.
    Sie spürte regelrecht, wie er fieberhaft überlegte.
    »Papa hat ja auch mehrere Namen, nicht wahr, Papa?«
    Jetzt fuhr er herum. »Halt den Mund, Giulietta!«
    Der Ton seiner Stimme erschreckte Anita mehr als Giulietta, die von der Treppe auf ihn herabblickte. Anita schaute von einem zum anderen.
    »Kann mir jemand erklären, was hier los ist?«, fragte sie verwundert.
    »Papa kann dir alles erklären, Mama. Frag ihn nur, wo sein Sohn ist.«
    Die nachfolgende Stille hatte etwas Unheilvolles.
    Ihr Vater atmete laut hörbar aus und schüttelte heftig den Kopf, während Anita jetzt Giulietta anstarrte, als habe sie den Verstand verloren.
    Dann betrachtete sie ihren Mann. »Markus, wovon redet sie?«
    Er ignorierte sie, war mit einem Satz die beiden Stufen der Treppe hinauf und baute sich vor ihr auf. Die plötzliche Nähe erschreckte sie, aber sie hatte keine Angst mehr vor ihm.
    Es war alles wahr. Dieser Mann war ein Fremder für sie.
    »Was … was fällt dir ein«, zischte er sie an.
    Sie ging einen Schritt rückwärts und überragte ihn nun wieder.
    Sie wollte etwas erwidern, doch Anitas zornige Stimme kam ihr zuvor.
    »Markus … verdammt noch mal, was geht hier vor?«
    Dann ertönte wieder die Klingel.
    Giulietta ging noch zwei Schritte rückwärts und betrachtete stumm ihre beiden Eltern.
    Dann drehte sie sich um und eilte die Treppe hinauf.

30
    S ie starrte auf den Monitor, der den Zuschauerraum überwachte. Sie konnte gut erkennen, wo sie saßen. Reihe drei. In der Mitte. Sie ließen sich nichts anmerken, begrüßten Hollrichs, die soeben eintrafen. Ein weiteres Ehepaar wurde durchgelassen und nahm neben ihnen Platz. Vermutlich noch ein Kollege ihres Vaters. Ihre Mutter schaute bisweilen wie abwesend vor sich hin. Ihr Vater ließ keinerlei Regung erkennen. Dann ihre Mutter, die Frau Hollrich das Programm erläuterte. Sie wies auf eine Stelle im Besetzungsblatt und erklärte ihr etwas, das sie mimisch mit Achselzucken und Kopfschütteln kommentierte. Frau Hollrich machte eine lässige Handbewegung. Ihr Vater hatte inzwischen die Videokamera entdeckt und blickte einige Sekunden lang ausdruckslos direkt in die Linse.

31
    G iulietta kehrte in den Gang zurück und traf auf Marina Francis, die soeben aus der Umkleide kam. Giulietta ging bis zum Bühneneingang neben ihr her und suchte sich dann einen Platz in den Kulissen. Die sechs Paare, welche die Strawinsky-Variationen tanzten, waren bereits auf der Bühne. Die letzten Minuten hinter geschlossenem Vorhang. Dann der tiefe Glockenklang, der den Beginn der Vorstellung ankündigte. Es wurde still. Die Paare nahmen ihre Positionen ein. Das leise Zischen der Nebelmaschine vermischte sich mit den ersten Takten der Musik. Die Bühne war in dunkelblaues Licht getaucht. Dann strich ein leichter Windzug durch den Kunstnebel. Der Vorhang war offen. Mit dem Einsatz der Celli begann der Tanz.
    Giulietta betrachtete Marina und fühlte eine unerträgliche Nervosität in sich aufsteigen. Welche Sicherheit sie ausstrahlte! Sie konnte den Blick nicht von ihr nehmen. Sie würde niemals so tanzen können. Heert hatte einen Fehler gemacht, sie nicht für das Tango-Solo zu besetzen. Möglich, dass Marina für Tango zu elegant, zu weich war. Aber Ballett war nun einmal nicht Tango. Das Publikum würde Giuliettas Stil nicht verstehen. Marina Francis. Das verstand man. Giulietta würde schwer erscheinen, unbeholfen, plump. Wie sollte sie nach Marina die Bühne betreten?
    Der Beifall war berauschend. Vier Vorhänge. Marina musste mehrmals an den Bühnenrand. Ihre Verehrer waren da und warfen Blumen. Während der Pause herrschte Hochstimmung. Giulietta zog sich vor dem allgemeinen Durcheinander in den dritten Stock zurück und verbrachte einige Minuten allein im dunklen

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