Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Probensaal. In zwanzig Minuten war es so weit. Sie schloss die Augen und atmete gleichmäßig. Sie wollte leer werden, alles vergessen, aber es gelang ihr nicht. Die Eindrücke der letzten Monate suchten sie heim. Stimmen. Gerüche. Bilder. Sie dachte an Lindsey. An ihr Hotelzimmer in Buenos Aires. Und immer wieder das ausgebrannte Autowrack. Sie schrie. Einmal. Dann noch einmal. Kurz und laut.
Als sie zur Hinterbühne zurückkehrte, nahmen die ersten Paare gerade Aufstellung. Heert winkte sie zu sich heran und fragte sie, ob alles in Ordnung sei. Giulietta nickte stumm. Marina trat hinzu und wünschte ihr Glück. Giulietta sagte ihr, sie sei großartig gewesen. Heert flüsterte ihr noch etwas ins Ohr, aber sie verstand es nicht. Ein Techniker machte ihnen ein Zeichen, und Heert zog sie weiter in die Seitenbühne hinaus, während sich die letzten Paare auf der Bühne einfanden. Der Gong ertönte. In zwei Minuten würde der Vorhang aufgehen.
Heert blieb stehen und wiederholte, was er eben gesagt hatte. »Wenn du Musik hörst, dann tanzt du, ja?«
Sie schaute ihn verständnislos an. »Natürlich«, sagte sie dann, »was soll ich denn sonst tun.«
»Enttäusche mich nicht, Giulietta. Ja?«
Sie verstand überhaupt nicht, was er wollte. »Willst du mich nervös machen?«, fragte sie gereizt.
»Tanze zur Musik. Hörst du?«
Sie nickte verwirrt und ging dann auf ihre Warteposition. Das Licht erlosch, und es verblieb nur ein Rotschimmer. Die Tänzerinnen trugen dunkle Trikots und Netzstrümpfe, die Tänzer schwarze Hosen und eng anliegende Tops aus Lederimitation. Während der Vorhang sich hob, verstummten die letzten Gespräche im Zuschauerraum. Das Bild war ungewohnt, und es vergingen einige Sekunden, bevor die noch ungewohntere Musik einsetzte.
Tres minutos con la realidad
. Drei Minuten mit der Wirklichkeit. Die Paare setzten sich in Bewegung. Nach einigen Minuten die ersten Hustgeräusche im Publikum. Giulietta beobachtete Enska. Sie tanzte tadellos. Auch die anderen waren perfekt synchron und machten genau das, was sie wochenlang geprobt hatten. Aber die winzigen Signale aus dem Publikum, der Mangel an Konzentration, die Unruhe hier und da sprachen eine klare Sprache: das Stück war nicht leicht zugänglich. Die Musik war zu fremd, die Darbietung berührte das Publikum nicht. Kein Vergleich zu den Strawinsky-Variationen und der gespannten Stille während der Aufführung. Der Saal war unruhig. Noch nicht ablehnend oder frostig, aber gleichgültig. Viviane stand neben Heert und kaute an den Fingernägeln. Theresa Sloboda saß daneben auf einem Hocker und zwinkerte Giulietta zu, als sie ihren Blick bemerkte. Maggie Cowler war Gott sei Dank schon vor vier Tagen nach Wien abgereist.
Der Augenblick ihres Einsatzes rückte näher. Plötzlich war alles um sie herum leer. Eine Spannung fiel von ihr ab.
Libertango
begann …
32
L utz erzählte ihr später, sie habe das Haus völlig überrascht. Der Eröffnungsteil sei nicht schlecht gewesen. Aber während die Musik unter Volldampf dahinrauschte, wurden die Tänzer darin regelrecht hin- und hergeblasen. Man sah ein filigranes Gewirr aus Armen und Beinen, die der komplizierten Melodielinie folgten. Aber nirgendwo gab es eine Gegenbewegung für die unterschwellige Gewalttätigkeit dieser Musik. Ihr Erscheinen kehrte das um. Das Bild auf der Bühne bekam plötzlich eine Struktur. Er habe sofort begriffen, warum Heert um alles in der Welt gerade sie für das Solo haben wollte. Sie bündele all das, was die anderen Tänzer entweder nicht hörten oder nicht umzusetzen verstanden. Während des ersten Teils sei man als Zuschauer verloren gewesen. Ein Gewimmel von anmutigen Gesten und Gebärden, während man instinktiv nach einer optischen Entsprechung des verstörenden Elements dieser Musik suchte. Mit ihrem Erscheinen war das plötzlich vorhanden. Man konnte gar nicht anders, als sich diesen langsamen, schleppenden Bewegungen zu überlassen, während die Musik um sie herum tobte. Sie brachte Ruhe und Tiefe auf die Bühne. Das Haus wurde still. Totenstill.
Giulietta selbst erinnerte sich an die ersten Minuten ihres Auftritts überhaupt nicht. Die Hitze der Scheinwerfer war das Letzte, das sie wahrnahm. Danach war alles wie ein Rausch gewesen. Ihr Körper und die rätselhafte Verbundenheit mit dieser Musik. Sie spürte die hellen, melodiösen Stellen, beachtete sie jedoch nicht und folgte stattdessen den dunklen, schrägen Spuren, den gehetzten Bassläufen, dem Keuchen des
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