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Totenhauch

Totenhauch

Titel: Totenhauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Stevens
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EINS
    Ich war neun, als ich meinen ersten Geist sah.
    Mein Vater und ich rechten Laub auf dem Friedhof, auf dem er seit Jahren als Gärtner und Grabpfleger arbeitete. Es war Frühherbst, und eigentlich war es für einen Pullover noch nicht kalt genug, aber an diesem besonderen Nachmittag wurde die Luft empfindlich kühl, als die Sonne Richtung Horizont sank. Es ging eine sanfte Brise, die nach Holzrauch und Tannennadeln duftete, und als der Wind stärker wurde, erhob sich eine Schar schwarzer Vögel von den Baumwipfeln in die Lüfte und stob über den blassblauen Himmel davon wie eine Sturmwolke.
    Ich sah ihnen nach und hielt dabei die Hand schützend über die Augen. Als ich den Blick schließlich wieder senkte, sah ich ihn von Weitem. Er stand unter den tief herabhängenden Zweigen einer Virginia-Eiche, und das grüngoldene Licht, das durch das Louisianamoos schimmerte, warf einen unwirklich leuchtenden Schein auf die Stelle um ihn herum. Er selbst war nur ein Schemen, sodass ich mich einen Moment lang fragte, ob es vielleicht nur ein Trugbild war.
    Als das Tageslicht noch mehr verblasste, wurden die Umrisse schärfer, und ich konnte sogar seine Gesichtszüge erkennen. Er war alt, noch älter als mein Vater, und er hatte weiße Haare, die auf den Kragen seiner Anzugjacke fielen, und Augen, in denen ein inneres Licht zu glühen schien.
    Mein Vater war vertieft in seine Arbeit, zog den Rechen überdie Gräber, und ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten, flüsterte er plötzlich: »Schau ihn nicht an.«
    Verwundert drehte ich mich zu ihm um. »Siehst du ihn auch?«
    »Ja, ich sehe ihn. Und jetzt mach weiter.«
    »Ja, aber wer ist der   …«
    »Schau ihn nicht an, hab ich gesagt!«
    Sein scharfer Ton jagte mir Angst ein. Die paar Mal, die er mir gegenüber die Stimme gehoben hatte, konnte ich an einer Hand abzählen. Dass er es jetzt tat, obwohl ich ihm keinen Anlass dazu gegeben hatte, trieb mir schlagartig die Tränen in die Augen. Das Einzige, was ich nie ertragen konnte, war die Missbilligung meines Vaters.
    »Amelia.«
    Reue schwang in seiner Stimme, und in seinen blauen Augen lag etwas, von dem ich erst später begreifen sollte, dass es Mitleid war.
    »Es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe, aber es ist wichtig, dass du tust, was ich dir sage. Du darfst ihn nicht anschauen«, sagte er mit sanfterer Stimme. »Keinen von ihnen.«
    »Ist er ein   …«
    »Ja.«
    Etwas Kaltes berührte meinen Rücken, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich konnte nur auf den Boden starren.
    »Papa«, flüsterte ich. So hatte ich ihn schon immer genannt. Ich weiß nicht, warum ich mich für diesen altmodischen Kosenamen entschieden hatte, aber er passte zu ihm. Er war mir immer sehr alt vorgekommen, obwohl er noch nicht einmal fünfzig war. Solange ich zurückdenken konnte, war sein Gesicht zerfurcht und wettergegerbt gewesen wie der rissige Lehm eines ausgetrockneten Bachbetts, und sein Rücken war krumm von der jahrelangen gebückten Arbeit über den Gräbern.
    Aber trotz seiner schlechten Körperhaltung hatte sein Auftreten etwas ungeheuer Würdevolles, und aus seinen Augen und seinem Lächeln sprach sehr viel Güte. Ich liebte ihn mit jeder Faser meines neunjährigen Ichs. Er und Mama waren meine ganze Welt. Oder vielmehr: Das waren sie gewesen   – bis zu diesem Augenblick.
    Ich sah, wie sich etwas in Papas Gesichtsausdruck veränderte, und dann schloss er langsam und ergeben die Augen. Er legte unsere Rechen zur Seite und mir die Hand auf die Schulter.
    »Komm, wir ruhen uns eine Weile aus«, sagte er.
    Wir setzten uns auf den Boden, drehten dem Geist den Rücken zu, und dann sahen wir zu, wie die Dämmerung vom Lowcountry herüberkroch. Ich schlotterte die ganze Zeit vor Kälte, obwohl das schwächer werdende Tageslicht auf meinem Gesicht immer noch warm war.
    »Wer ist der Mann?«, flüsterte ich schließlich, weil ich die Stille keinen Augenblick länger ertragen konnte.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Warum darf ich ihn nicht anschauen?« Kaum hatte ich es ausgesprochen, da fiel mir auf, dass ich mehr Angst hatte vor dem, was Papa mir antworten würde, als vor dem Geist selbst.
    »Er darf nicht dahinterkommen, dass du ihn sehen kannst.«
    »Warum?« Als er nicht antwortete, hob ich einen dünnen Zweig vom Boden, stach ihn durch ein heruntergefallenes Blatt und drehte das Ganze wie ein Windrädchen zwischen den Fingern. »Warum, Papa?«
    »Weil die Toten nur eines wollen: wieder Teil unserer Welt sein. Sie

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