Dreihundert Brücken - Roman
Tür hinter sich. Die beiden jungen Männer hörten mit entsetzten Mienen zu, was ihnen eine energische, dicke rotblonde Frau in ge mustertem Pullover und schwarzer Jerseyhose über ihre Rechte als Soldaten zu erklären versuchte. Julia setzte sich auf eine Bank an der hinteren Wand, unter die Urkunden mit Auszeichnungen, die internationale Menschenrechtsorganisationen den Soldatenmüttern verliehen hatten. Sie wartete darauf, dass die Frau mit den jungen Männern fertig wurde. Plötzlich erregten das Gesicht und die Stimme der dicken Rotblonden ihre Aufmerksamkeit. Und sie erkannte sie. Marina Bondarewa, ihre Schulkameradin, war so vertieft in ihre Ausführungen, dass sie nicht aufgemerkt hatte, als Julia hereinkam. Und erst als sie den jungen Männern zwei Broschüren überreichte und kurz aufblickte, nahm sie die blasse Person mit dem glatten braunen Haar wahr, die hinten im Raum unter den Urkunden auf der Bank saß und schweigend wartete, erkannte sie aber nicht.
»Geht es um Ihren Sohn? Haben Sie die Papiere dabei?«, fragte sie.
Die Frage verfolgte sie, seit sie das Gebäude betreten hatte. Alle waren Mütter. Doch diesmal sparte Julia sich eine Antwort; sie stand auf und ging zu dem kleinen Podest.
»Marina?«, stammelte sie. Und weil die ehemalige Schulkameradin verblüfft schwieg, setzte sie nach: »Ich bin’s, Julia. Julia Stepanowa. Erinnerst du dich nicht?«
Marina riss die Augen auf, und mit einem Mal schien der ganze Raum innezuhalten. Die beiden Soldaten, über die gerade ausgehändigten Broschüren gebeugt, in denen zusam mengefasst stand, was die dicke Frau ihnen gesagt hatte, lasen nun nicht mehr, wirkten nicht mehr verurteilt wie bei ihrer Ankunft, waren nur noch in der Gegenwart erstarrte Figuren. Es gab keine Zukunft, keine Befürchtungen, keine Angst. In diesem Augenblick konnte niemandem etwas passieren. Es brauchten keinerlei Vorkehrungen getroffen zu werden, um zu verhindern, dass etwas geschah. Es herrschte Waffenruhe, und alle atmeten auf. Marina wiederholte leise den Namen der Freundin, wie um sich zu überzeugen oder zu erinnern. Dann sprang sie auf, schob den Tisch mit ihrem dicken Leib beiseite und umarmte Julia. Nun waren es die Soldaten, die die Augen aufrissen, verblüfft über den Gefühlsausbruch der Frau, die ihnen eben noch streng wie ein General erklärte hatte, welche Strategien sie in ihrem privaten Krieg gegen das russische Heereskommando verfolgen konnten.
»Julia Stepanowa! Was ist passiert? Etwas mit deinem Sohn, mein Gott?«, fragte sie, mühsam ihre Rührung unterdrückend, obwohl sie sich nie richtig nahegestanden hatten.
Die Tränen traten ihr in die Augen, als hätte sie die Frage sich selbst gestellt. Und Julia begriff, selbst wenn sie sich die größte Mühe gab, würde sie nie wirklich verstehen können, was all diese Frauen verband. Eine Art Wahn hatte von ihnen Besitz ergriffen. Es galt, ihre Söhne zu retten. Das Retten hielt sie am Leben. Solange sie Mütter waren, konnten sie nicht sterben.
»Entschuldige«, sagte Marina dann und fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, bevor Julia ihr antworten konnte. »Du hast mich in einem schlechten Augenblick erwischt.«
»Ich möchte nicht stören …«
»Nein, du störst überhaupt nicht. Darum geht es nicht. Gib mir nur noch zwei Minuten, dann habe ich den jungen Leuten hier alles erklärt, was sie tun müssen. Hast du Zeit für einen Tee?«
»Ja, natürlich.«
Als sie gingen, war die Schlange im Flur genau so lang wie vorher, mit neuen Müttern und Söhnen. Die Schlange wurde nie kürzer. Es war immer die gleiche Anzahl von Menschen, die sich dort sammelten und einander ablösten. Marina bat die größere der beiden Frauen, die sich um die Neuankömmlinge kümmerten, sie eine Stunde lang zu vertreten.
»Wir kommen kaum nach«, sagte sie draußen zu Julia. »Seit Kriegsbeginn haben wir an manchen Tagen über hundert Fälle.«
Zwei Wachleute gingen vor dem Gebäude auf und ab. Der eine grüßte Marina: »Guten Tag, Mütterchen.«
Doch sie reagierte nicht.
»Die sind hier, um die Soldaten einzuschüchtern, die zu uns kommen. Neulich haben sie versucht, einem jungen Mann, der in der Schlange wartete und nur kurz zum Rauchen rausging, den Pass abzunehmen. Terrorismus gilt jetzt als Rechtfertigung für alles«, sagte sie. Gedankenverloren ging sie ein paar Schritte neben Julia her, um dann unvermittelt das Thema zu wechseln: »War es nicht deine Mutter, die Anna Achmatowa vor dem Gefängnis erkannt
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