Dreihundert Brücken - Roman
1.
St. Petersburg, am Vorabend der
Dreihundertjahrfeier (April 2003)
I ch kann keine Kinder bekommen. Ich habe mehr als zwanzig Jahre gewartet, um es auszusprechen, damit ich nichts erklären muss. Ich habe gewartet, bis die Frauen unserer Generation das Alter erreicht haben, in dem sie keine Kinder mehr bekommen können.«
»Aber weswegen bist du dann hier?«
Die beiden Frauen sitzen in einem Café in der Rubinstein-Straße. Fast vierzig Jahre haben sie sich nicht gesehen. Sie sind zusammen zur Schule gegangen. Sie haben sich von der Überraschung ihres zufälligen Wiedersehens noch nicht erholt, auch wenn sie in der Schule nicht sehr eng befreundet waren.
Am frühen Nachmittag hat Julia Stepanowa nach dem Arzttermin die Gelegenheit für einen Besuch der Kus netschny-Markthalle genutzt – zur Erinnerung daran, dass die Mutter sie als Kind immer mitnahm, um dort Gemüse und smetana einzukaufen – und dann das getan, was sie sich vor einigen Tagen vorgenommen hat, als sie das Untersuchungsergebnis erfuhr. Zur Arbeit brauchte sie nicht zurückzukehren. Inzwischen kennt sie sich in dieser Gegend der Stadt kaum mehr aus. Nur selten kommt sie hierher. Bei Dr. Juravliov ist sie seit zwanzig Jahren nicht mehr gewesen. Nun muss sie entscheiden, ob sie wieder mit den Sitzungen anfangen und alles noch einmal durchmachen will. Die Umgebung hat sich verändert – oder ist noch im Umbruch, wo Baustellen für die letzten Verschönerungen sorgen. »Die Stadt wird neu auferstehen«, verkündet ein Plakat an einem Art-déco-Gebäude, einer typischen Phantasmagorie vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, häufig wiederkehrendes Szenario ihrer Alpträume in der Kindheit. In den Straßen sind mehr Polizisten unterwegs, wegen der Attentate, aber vor allem wegen des Massakers im Moskauer Theater in der Dubrowskaja-Straße im Oktober des vergangenen Jahres.
Nachdem sie die Markthalle mit einem Schälchen saurer Sahne und einer Tüte Obst verlassen hat, ist sie drei Häuserblocks weiter bis zur Rasjesschaja-Straße gegangen und vor dem schäbigen Eingang eines trotz der Vorbereitungen für die Dreihundertjahrfeier heruntergekommenen Gebäudes stehen geblieben. Sie hatte die Stimme des Arztes noch im Ohr: »Vor zwanzig Jahren haben wir ein für eine kinderlose Frau Ihres Alters radikales Verfahren gewählt, weil wir kein Risiko eingehen wollten. Und wir haben Ihnen damit zwanzig Jahre Lebensqualität beschert. Jetzt haben wir ein neues Problem, verstehen Sie? Ich kann Ihnen keine Hoffnungen machen. Die Entscheidung, was wir tun, liegt bei Ihnen.« Bei diesen Worten hat Julia zum ersten Mal das Bedürfnis verspürt, ein Leben zu retten, bevor sie stirbt.
Zur Vergewisserung warf sie einen Blick auf das Schild neben dem verwahrlosten Eingang: Komitee der Soldatenmütter St. Petersburg. Sie stieg die erste Treppe hinauf. Stimmengewirr hallte durch den düsteren Flur. Mütter und Söhne drängten sich vor einer Tür am Flurende, zwei Frauen, die eine klein, die andere lang und hager, kümmerten sich um die rund fünfzehn Personen in der Schlange. Sie hörten sich jeden einzelnen Fall an, beantworteten Fragen und prüften Unterlagen. Julia wandte sich an die Kleinere. Doch kaum hatte sie den Mund aufgemacht, wurde sie von einer keifenden Frau unterbrochen, deren Gesicht sie im Halbdunkel zwischen den anderen nicht ausmachen konnte. Es kam ihr so vor, als redeten alle gleichzeitig.
»Sie müssen warten, so wie alle anderen auch! Vordrängeln nützt nichts. Sie sind nicht die Einzige, für die es um Leben und Tod geht.«
Beschämt stellte sie sich ans Ende der Schlange. Als hätte man sie auf frischer Tat ertappt. Es konnte doch nicht sein, dass ihr der Tod schon ins Gesicht geschrieben stand. Noch hatte sie sich nicht abgewöhnt, sich des baldigen Todes zu schämen, und fürchtete, man könnte ihn ihr ansehen. Sie wartete wie alle anderen. Es ging nur langsam voran.
Schließlich kam die kleinere Frau zu ihr und fragte: »Geht es um Ihren Sohn?«
Dieselbe Frage sollte sie bis zum Tagesende insgesamt fünf mal hören, allein dreimal, während sie im Flur wartete und sich mit ihren Schicksalsgenossinnen unterhielt. Zwei Stunden musste sie anstehen, bis sie den Raum mit den hohen, rußigen Fenstern betreten durfte. Die beiden jungen Männer, die in der Schlange vor ihr gestanden hatten, waren noch nicht herausgekommen, als die größere Frau gereizt auf die Tür deutete. »Sie sind dran.«
Julia trat ein und schloss umständlich die
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