Dreihundert Brücken - Roman
versetzt. Und als er wieder nach Hause kam, wurde er gleich einberufen. Sie konnten nicht einmal mehr ein ärztliches Attest beschaffen. Ehe sie sich’s versahen, befand er sich schon in Irkutsk. Im letzten Monat war seine Mutter zehn Tage weg. Und seit ihrer Rückkehr ist sie nicht mal mehr auf einen Schwatz in der Küche geblieben. Vor einer Woche hat sie dann bei mir angeklopft. Sie sagte, sie sei verreist gewesen. Sie habe ihren Sohn in Irkutsk besucht, im Militärkrankenhaus.«
»Wenn er im Krankenhaus liegt, ist das schon der halbe Erfolg.«
Der Kellner bringt den Tee und das Wasser. Solange er ihnen eingießt, wartet Julia ab. Sie kann ihre Empörung kaum mehr verbergen. Sowie der Kellner gegangen ist, spricht sie weiter.
»Du hast nicht verstanden. Wassja ist zusammengeschlagen worden. Sie haben ihm zwei Rippen und einen Arm gebrochen. Zwei Tage lang lag er im Koma. Sein ganzer Körper ist voller Blutergüsse. Bis vor einer Woche drohten innere Blutungen. Er will nicht zurück in die Kaserne, wo er nur wieder diese sinnlosen Dedovschina 1 -Rituale über sich ergehen lassen muss.«
»Keiner will zurück. Wir können dafür sorgen, dass er im Krankenhaus bleibt (es ist einfacher, wenn er schon drin ist) und dann die Militärverwaltung einschalten und beantragen, dass er versetzt wird.«
»Seine Mutter traut sich nicht, zu den Soldatenmüttern zu gehen. Sie glaubt, das macht alles noch schlimmer. Sie fürchtet sich vor Repressalien. Dass sie ihn womöglich umbringen. Wassja hat zu ihr gesagt, wenn er in die Kaserne zurückmuss, ist er ein toter Mann. Und sie hält es für möglich, dass er sich eher umbringen würde, als in die Kaserne zurückzukehren.«
Der Kellner bringt das Sandwich. Marina wischt sich, von Julia unbemerkt, mit der Hand über die Augen. Gleich darauf ist sie wieder gefasst. Julia spricht so engagiert, dass sie gar nicht wahrnimmt, was ihr letzter Satz ausgelöst hat.
»Du kannst der Mutter sagen, dass er nicht in die Kaserne zurückmuss, wenn er es nicht will. Wir können gleich morgen Kontakt zur Militärverwaltung aufnehmen und dafür sorgen, dass er versetzt wird«, sagt Marina.
Wieder tritt Stille ein. Marina trinkt den Tee und wickelt das Sandwich aus. Sie kann ihrer Freundin nicht in die Augen sehen, und endlich nimmt Julia wahr, wie unbehaglich ihr ist.
»Entschuldige, wenn ich schroff war«, sagt sie.
»Darum geht es nicht. Das bin ich gewohnt. Keine Sorge. Das ist immer eine heikle Sache. Es hat nichts mit dir zu tun. Aber ich habe einen Fehler gemacht. Heute habe ich eine schlimme Nachricht erhalten.«
Julia schweigt. Sie trinkt einen Schluck Wasser. Marina spricht weiter, ohne sie anzusehen.
»Vor zehn Tagen ist ein neunzehnjähriger Junge beim Einsatz in den Bergen südlich von Grosny ums Leben gekommen. Vor sechs Monaten hatte Gott mir die Chance gegeben, ihn zu retten.« Sie zieht ein Papier aus der Tasche und reicht es Julia. »Aber ich habe diese Chance nicht genutzt. Ich habe ihn im Stich gelassen. Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich habe es erst heute erfahren, von der Mutter. Sie war in Rostow, die Leiche des Sohnes identifizieren.«
Julia faltet das Papier auseinander und liest stumm: »Ich schreibe wie der Verrückte, der nicht aufhören kann, seine sinnlose Litanei zu trällern, und sei es nur, um nicht den Lärm der Welt hören zu müssen, der nicht aufhören kann, Selbstgespräche zu führen, die lauter sind als der Lärm der Welt. Ich schreibe für den Fall, dass du beschließt, diese Stadt wieder heimzusuchen. Die künstlichste Stadt, die es gibt. In drei Jahrhunderten haben sie es mit drei Namen versucht, alles vergeblich. Für jedes Jahrhundert ein Name. Dreihundert Brücken haben sie gebaut, für jedes Jahr eine, aber keine führt irgendwohin. Niemand wird jemals von hier weggehen.«
»Gemeint ist Petersburg«, sagt Marina. »Das ist ein Liebesbrief.«
1 Wörtl. »das Gesetz der Älteren – oder der Großväter«; brutale, mitunter tödlich endende Scherze, denen in Russland Rekruten und jüngere Soldaten während des Militärdienstes ausgesetzt sind.
2.
Ein Jahr zuvor, in einem Flüchtlingslager
in Inguschetien
E s fing damit an, dass Zainap die Toten vergaß. Sie vergaß, dass sie gestorben waren. Und dann machte sie eine Liste, um sie nicht mit den Lebenden zu verwechseln.
Sie sitzt auf einem Feldhocker vor einem Aluminiumtisch mit einer grünen Plastikdecke in dem acht Quadratmeter großen Zelt, das sie seit fünf Monaten mit ihrem Enkel
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