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Dreihundert Brücken - Roman

Dreihundert Brücken - Roman

Titel: Dreihundert Brücken - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernardo Carvalho
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Ruslan in einem Flüchtlingslager in der Nähe der inguschischen Stadt Malgobek bewohnt. Um den Kopf trägt sie ein geblümtes Tuch. Seit Beginn des Krieges hat sie drei Zähne verloren. Sie wacht jeden Morgen um fünf Uhr auf. Nicht, weil sie es will. Inzwischen sind es nicht mehr nur die Toten; sie kann sich auch nicht mehr an die erinnern, die noch am Leben sind. Und das macht ihr Sorgen. Sie zieht ein Taschentuch aus der Rocktasche und wischt sich die trotz der Morgenkälte verschwitzte Stirn ab. Wahrscheinlich geht das Fieber zurück. Sie hat gehört, im Sommer, wenn die Sonne scheint, könne es kein Mensch in den Zelten aushalten, trotz all des Staubs draußen. Inzwischen ist es fast Frühling, aber nachts ist es in den Zelten noch immer kalt wie in einer Kühlkammer. Sie könnte vormittags zur Krankenstation gehen und um weitere Decken bitten, doch sie kann es nicht mehr ertragen, die Gesichter der Sterbenden zu sehen. Und sie ist das Bitten leid. Als sie herkamen, nahm das Lager eigentlich keine neuen Flüchtlinge mehr auf. Immer wenn sie sagt, es sei ein »Wunder«, dass man sie aufgenommen habe, klingt unfreiwilliger Sarkasmus durch, weil sie für ihre Ausnahmegenehmigung, im Lager zu bleiben, teuer bezahlt hat. Wegen der illegalen Situation kommen ihr immer wieder Zweifel, ob sie einen Anspruch auf offizielle Hilfe hat. Wenn sie zur Krankenstation geht, ist sie auf die Gutwilligkeit der Ärzte angewiesen. Sie muss ständig husten, und die Medikamente und Lebensmittel reichen nicht für alle. Nicht alle Menschen können in den Lagern versorgt werden. Hin und wieder jagen Flugzeuge im Tiefflug über die Zelte und werfen Flugblätter ab, die bessere Lebensbedingungen in Grosny unter der Schirmherrschaft der Russen und internationaler Hilfsorganisationen versprechen. Aber davon lässt sich niemand täuschen. Man versucht mit allen Mitteln, die Flüchtlinge zur Rückkehr zu bewegen. Manche werden zwangsrepatriiert, seit die inguschischen Behörden, die verschuldet sind und die Flüchtlinge nicht ernähren können, die Weisungen des Kreml befolgen, dem wiederum daran gelegen ist, für die pro-russische Verwaltung in Grosny die Fassade ei ner Normalität herzustellen, derweil die Guerilla in den Bergen agiert. Angeblich herrscht wieder überall Ordnung, doch die Lage ist alles andere als normal. Man bemüht sich zwar, Informationen aus dem Ausland zu filtern, aber es gibt immer jemanden, der etwas weiß. Aus Grosny kommen die schlimmsten Nachrichten, und als reichten die prekären Verhältnisse im Lager nicht, müssen die Flüchtlinge auch noch jederzeit damit rechnen, dass sie in den Krieg zurückgeschickt werden. Man wartet darauf, dass der neue inguschische Präsident bekannt gibt, was seine Regierung plant. Es geht das Gerücht, die Lager würden über kurz oder lang geschlossen. Zainap macht es nichts aus, zurückgeschickt zu werden. Sie weiß, dass sie den Sommer, die Tage voller Sonne nicht mehr erleben wird. Eine seltsame Gewissheit, als wäre sie schon tot. Und außerdem ist es ihr lieber, in der Heimat im Krieg zu sterben, als in einem Flüchtlingslager langsam zu verkümmern. Das Problem ist Ruslan. Zainap fürchtet, dass er in einen der nächsten Züge nach Grosny gesteckt wird. Dann wären alle ihre Mühen umsonst gewesen. Deshalb hat sie schnell handeln müssen. Vor nun bald einem Monat hat sie den Entschluss gefasst, ohne ihm etwas zu sagen. Bevor sie sich freiwillig für die Repatriierungszüge meldete, hat sie mit Oberst Egorow gesprochen, der jede Woche, immer am Samstag, ins Lager kommt. Sie hat über das Schicksal ihres Enkels verhandelt. Mit den Jahren hat sie gelernt, dass niemand unbestechlich ist. Es gibt Gerüchte über die Pläne des Obersten und den wahren Grund seiner wöchentlichen Besuche. Er rekrutiert junge Männer, die noch kräftig genug sind, auf den Baustellen in Petersburg zu arbeiten – nicht allein diejenigen, die am besten dafür taugen und noch die unwürdigsten Bedingungen akzeptieren, nur um aus dem Lager herauszukommen, sondern auch jene, die, ungeachtet ihrer körperlichen Verfassung, bereit sind, dafür mit dem Wenigen zu zahlen, das ihnen geblieben ist. Wenn Ruslan an diesem Morgen aufwacht, wird Zainap ihm sagen, was notwendig ist, um ihn davon zu überzeugen, dass er ohne sie weggehen muss, wenn sie nicht mehr da ist. Und dies bedeutet, dass sie ihm erzählen will, was sie jahrelang als Geheimnis gehütet hat. Sie wird ihm endlich erzählen, woher das Geld für

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