Dreikönigsmord (German Edition)
1. KAPITEL
ine unüberschaubare Menschenmenge drängte sich zu beiden Seiten der Gasse. Wut- und hassverzerrte Gesichter starrten Jo an.
»Hexe!«
»Verdammte Hexe!«
»Tötet das verfluchte Weib!«
Die Schreie prasselten wie Hiebe auf sie nieder. Sie stand auf einem Karren und trug ein seltsames, zerfetztes Kleid. Ihre Hände waren auf ihren Rücken gefesselt. Wie war sie nur hierhergekommen? Ihr wurde übel vor Angst. Panisch wollte sie von dem Wagen springen. Doch ein grobschlächtiger Mann hielt sie mit eisernem Griff fest.
Ein Stein pfiff vor ihr durch die Luft. Ein anderer traf sie mit voller Wucht am Arm. Während ihr der Schmerz den Atem raubte, kam der Karren zum Halten. Ein weiterer Mann, noch fetter als der, der sie gepackt hatte, trat auf sie zu. Ehe sie reagieren konnte, hatte er schon den Strick ergriffen und zerrte sie von dem Karren. Sie musste sich wehren, sich von dem Kerl befreien … Wie war noch einmal die erste Kampfstellung im Aikido? Verdammt, niemand hatte ihr beigebracht, was sie tun sollte, wenn jemand sie mit einem Kälberstrick hinter sich herschleppte.
Wieder traf sie ein Stein. Diesmal am Bein.
Etwas Weiches, Stinkendes klatschte ihr ins Gesicht. Sie sackte zu Boden.
»Komm schon, Täubchen, nicht schlappmachen«, höhnte der Fette.
Mit dem unverletzten Bein trat sie nach ihm. Sein Fausthieb gegen ihren Kopf ließ sie kurz die Besinnung verlieren.
Als sie wieder zu sich kam, banden die beiden Männer sie an einen Pfahl. Die Menge umgab sie in einem weiten, bedrohlichen Halbkreis. Ein bleierner Himmel breitete sich über den Giebeln von Fachwerkhäusern aus. Dann erst bemerkte sie das Stroh und das Holz, das um den Pfahl aufgeschichtet war. Das konnte doch nicht wahr sein!
Einer der Männer hielt eine brennende Fackel an das Stroh. Zischend schossen Flammen hoch.
»Nein! Nein, Neeeeiiiin …!« Ihre Schreie gingen in dem Aufheulen der Menge unter. Schon konnte sie die Hitze des Feuers spüren. Der Rauch drohte, sie zu ersticken.
»Nein!« Verzweifelt riss sie an ihren Fesseln. Die prasselnden Flammen, das Lärmen der Menge und ihre eigenen Schreie vereinigten sich zu einem schrillen, immer höher werdenden Ton. Noch einmal bäumte sie sich auf. Dann stürzte sie ins Bodenlose.
Hauptkommissarin Jo Weber spürte, dass sie auf einem harten Untergrund lag. Etwas Weiches, Schweres bedeckte ihr Gesicht. Sie rang nach Luft, zappelte und trat panisch um sich. Plötzlich konnte sie wieder atmen. Vor ihr erhob sich eine große, grau schimmernde Fläche. Meine Schlafzimmerschränke …, begriff Jo. Ich bin aus dem Bett gefallen und habe dabei die Decke mitgerissen. Stöhnend richtete sie sich auf. Ihr Hals schmerzte, und ihr Kopf fühlte sich an, als sei er aus Watte. Ihr Unwohlsein vom vergangenen Tag hatte sich zu einer starken Erkältung ausgewachsen. Was hatte sie nur für einen Unsinn geträumt?
Jo humpelte zu dem gekippten Fenster, durch das schwacher Rauchgeruch drang, und schlug es zu. Wahrscheinlich heizten irgendwelche Nachbarn wieder einmal mit Holz. Es ging doch nichts über eine Zentralheizung! Sie hatte sich kaum ins Bett fallen lassen und sich in die Decke gemummelt, als der schrille Ton erneut einsetzte. Er kam von ihrem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Der Wecker zeigte Viertel nach neun an. Es war Sonntag, und sie hatte dienstfrei.
Jo versuchte, das Klingeln zu ignorieren. Doch dann fiel ihr ein, dass möglicherweise Friedhelm sie anrief. Am Abend war er nach einem heftigen Streit aus ihrer Wohnung gestürmt. Sie hangelte nach dem Handy und nahm den Anruf an.
»Ja, hallo?«, krächzte sie.
»Jo?«
Augenblicklich wünschte sie sich, sie hätte das Gespräch nicht angenommen. Die resolute, vom jahrelangen Kettenrauchen heisere Stimme ihrer Dezernatsleiterin Brunhild Birnbaum drang an ihr Ohr.
»Es ist mir klar, dass du heute freihast, Jo. Aber ich wüsste nicht, wen ich sonst bitten könnte, sich die Leiche einmal anzusehen. Meyer hat Urlaub und ist in der Eifel. Kierberg und Lembach, die heute eigentlich Dienst hätten, sind krank. Und ich selbst habe dieses Wochenende meine Enkel zu Besuch. Vier und sechs Jahre alt … Die kann ich nicht allein lassen.«
»Es tut mir leid. Aber mir geht es überhaupt nicht gut …«, protestierte Jo.
»Fieber?«
»Nein, das heißt, ich weiß nicht. Ich habe meine Temperatur noch nicht gemessen …«
»Wenn du Fieber hättest, würdest du es spüren. Hör zu, du setzt dich jetzt in dein Auto und fährst zum Kloster
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