Dreimond - Das verlorene Rudel
auf und blickte in die eng zugekniffenen Sehschlitze eines riesigen schwarzen Wolfs, aus dessen schweißglänzender Kehle ein tiefes, drohendes Grollen drang.
Da breitete sie ihre Arme aus – und lachte.
Sie konnte kaum glauben, dass Flucht für sie überhaupt nicht infrage kam. Nicht jetzt. Nicht hier. Sie zitterte am ganzen Körper, aber nicht aus Furcht. Etwas in ihr war dabei, aufzubrechen, etwas, das ihr verboten hatte, einfach ins Haus zu laufen und die Türe zuzuschlagen. Es fühlte sich zu wertvoll an, um es zu übergehen. Ganz egal, was jetzt geschah. Wichtig war nur, dass sich endlich, endlich etwas tat.
Der schwarze Wolf hatte sie, wie seine beiden Begleiter, nicht aus den Augen gelassen. Das tiefe, unbestimmte Grollen stockte, als Fiona den Kopf in den Nacken legte und nur noch ein leises Glucksen aus ihrer Kehle kam. Dafür fiepte das deutlich kleinere Jungtier hinter dem großen Schwarzen kurz auf und drehte seinen rundlichen braunen Kopf mit den großen gelben Knopfaugen fragend zur Seite.
Der andere Wolf, das rotbraune Fell schweißgebadet, fletschte die Zähne und ließ ein bedrohlich anschwellendes Knurren hören. Mit einem Ruck wandte sich der Schwarze zu ihm um. Sofort trat eine angespannte Stille ein. Stille, bis auf das Läuten der Sturmglocke.
Fiona drehte sich unvermittelt zum Haus und bedeutete den Wölfen mit einem kurzen Nicken, ihr zu folgen. Sie führte die Tiere wie selbstverständlich über eine steile, ausgetretene Kellertreppe in ein steinernes Gewölbe, das sie selten betrat, weil es in ihren Augen nur Gerümpel barg. Ihr Vater hatte dort alte Decken, Weinfässer und eine Zeit lang sogar einige Kisten mit Lebensmitteln gelagert.
Die Wölfe betraten den kühlen, feuchten Raum zögerlich, nervös und beinahe widerstrebend. Keine Sekunde zu früh. Von draußen drang immer deutlicher aufgeregtes Rufen und Lärmen zu ihnen herunter. Ein kurzer Blick in die flackernden Augen des Leitwolfes genügte. Sie verzichtete darauf, die Kellertür mit dem dafür vorgesehenen rostigen Riegel zu sichern. Fiona rannte ins Freie, den Dörflern entgegen, bis sie gänzlich außer Atem und zitternd vor ihnen stand. »Ich … O Gott! Ich … ich habe sie gesehen«, stieß sie hervor. »Da entlang! Sie … sie sind im Wald verschwunden.«
Kapitel 2
Zweifel
M it einem Ruck setzte sich Fiona auf und rieb sich die Augen. Irritiert stellte sie fest, dass sie sich auf einem Stuhl im Flur des Forsthauses befand, nicht etwa in ihrem Bett ein Stockwerk weiter oben. Bibbernd hob sie die Decke zu ihren Füßen auf, die offenbar hinuntergerutscht war. Ein Blick aus dem Fenster in die sternhelle Nacht zeigte ihr, dass es noch sehr früh sein musste. Vergebens hielt sie Ausschau nach jenem zarten, kaum wahrnehmbaren Lichtstreifen, der am Horizont den beginnenden Tag ankündigte.
Jetzt einen Zuber mit heißem Wasser oder wenigstens ein honigsüßer Tee, frisch aufgebrüht von Nanna. Manchmal war es nicht leicht, allein zu sein, aber wenigstens gab es Desiree und …
Schlagartig wurde ihr bewusst, wer noch mit ihr im Hause war, warum sie sich so nahe der Kellertür schlafen gelegt hatte. Die Wucht der Erinnerung vertrieb den letzten Rest von Schläfrigkeit. Von einer Sekunde auf die andere war sie hellwach.
Die Wölfe.
Sie schleuderte die Decke wieder auf den Boden, stand auf, griff sich den zweiarmigen Messingleuchter von der Kommode, entzündete die Kerzen und sprang zur Kellertür. Sie wusste, was zu tun war.
Behutsam drückte sie die schwere Tür zum Gewölbe auf. Sie hatte die Tür am Vorabend nicht verschlossen. Das kam ihr jetzt zugute, hätte sie das Hochschieben des rostigen Riegels doch unweigerlich laut angekündigt. Sie blieb eine halbe Ewigkeit in der Tür stehen und lauschte in die Dunkelheit, die allmählich verschwommene Konturen anzunehmen begann.
Da waren keine Wölfe mehr. Die hätten sie längst gewittert und sich bemerkbar gemacht. Wölfe waren tatsächlich keine mehr da, doch leer war der Raum nicht.
Eine bis dahin nicht gekannte, pochende Erregung erfüllte sie wie bei jemandem, der über Jahre unbeirrt und ohne sich entmutigen zu lassen auf etwas hingearbeitet hat und dem mit einem Mal bewusst wird, dass das Ziel zum Greifen nah ist.
Dann waren es tatsächlich …
Ihr Puls raste. Beinahe wäre ihr der Leuchter aus der Hand gerutscht. Sie riss sich zusammen und ging ein paar Schritte in den Raum, bis sie nah vor einem auf dem Boden ausgestreckten Körper stand.
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