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Dreizehnhundert Ratten

Dreizehnhundert Ratten

Titel: Dreizehnhundert Ratten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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oder gar – Gott behüte – tot war.
    Die Fenster hatten innen einen Belag aus irgendeiner Art von blassem Staub und waren beinahe undurchsichtig. Ich klopfte ans Glas und glaubte dort drinnen eine Bewegung zu sehen, ein kaleidoskopisches Wogen schattenhafter Gestalten, war mir aber nicht ganz sicher. Erst da bemerkte ich den Geruch, durchdringend, gesättigt mit Ammoniak, den Geruch eines verwahrlosten Hundezwingers. Über eine Halde aus leeren Aluminiumschalen und Tierfuttertüten stieg ich die Stufen zum Hintereingang hinauf und klopfte vergeblich an die Tür. Der Wind frischte auf. Ich blickte auf den Abfall zu meinen Füßen und sah überall das Wort Rattenfutter in leuchtend orangeroten Buchstaben, und das hätte mich eigentlich stutzig machen sollen. Aber wie hätte ich es ahnen können? Wie hätte irgend jemand es ahnen können?
    Später, als ich meiner Frau den Blumenstrauß und den Käse gegeben hatte, rief ich Gerard an, und zu meiner Überraschung meldete er sich nach dem vierten oder fünften Läuten. »Hallo, Gerard«, sagte ich und versuchte, so viel Herzlichkeit wie möglich in meine Stimme zu legen, »ich bin’s, Roger, zurück aus der schönen Schweiz. Ich wollte dich vorhin besuchen, aber –«
    Er unterbrach mich mit rauher, heiserer Stimme, beinahe im Flüsterton. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Robbie hat es mir erzählt.«
    Ich fragte mich, wer Robbie war – ein Freund, der bei ihm wohnte? eine Frau? –, hakte aber nicht nach. »Tja«, sagte ich, »wie geht’s dir? Besser?« Er gab keine Antwort. Ich lauschte einen Augenblick auf das Geräusch seines Atems und sagte: »Wie wär’s, wenn wir uns mal treffen? Möchtest du vielleicht zum Abendessen kommen?«
    Eine weitere lange Pause. Schließlich sagte er: »Ich kann nicht.«
    Aber so leicht gab ich mich nicht geschlagen. Immerhin waren wir Freunde. Ich fühlte mich für ihn verantwortlich. Wir lebten in einer Gemeinschaft, in der die Leute sich umeinander kümmerten und wo der Verlust eines Menschen alle betraf. Ich versuchte, Heiterkeit in meine Stimme zu legen, und sagte: »Warum denn nicht? Zu weit? Ich grille dir ein schönes Steak und mache eine Flasche Côtes du Rhône auf.«
    »Ich hab zuviel zu tun«, sagte er. Und dann noch etwas, was ich damals nicht verstand. »Es ist die Natur«, sagte er. »Die Macht der Natur.«
    »Was meinst du damit?«
    »Ich bin überwältigt«, sagte er so leise, dass ich es kaum hörte. Dann verklang das Atemgeräusch, und schließlich war die Leitung tot.
    Man fand ihn eine Woche später. Paul und Peggy Bartlett, seine Nachbarn, bemerkten den Geruch, der im Verlauf einiger Tage zuzunehmen schien, und als auf Läuten und Klopfen niemand antwortete, riefen sie die Feuerwehr. Angeblich ergoss sich, als die Feuerwehrleute die Tür aufbrachen, eine Flut von Ratten nach draußen, die in alle Richtungen flohen. Drinnen war der Boden klebrig von Rattenscheiße, und alles, von den Möbeln über die Gipskartonwände bis hin zu den eichenen Deckenbalken im Wohnzimmer, war derart angenagt und zerfressen, dass das Haus kaum wiederzuerkennen war. Außer den frei herumlaufenden Ratten gab es noch Hunderte, die sich, meist halb verhungert und viele mit angefressenen Gliedmaßen, in den Käfigen drängten. Eine Sprecherin des örtlichen Tierschutzvereins schätzte, in dem Haus hätten sich mehr als dreizehnhundert Ratten befunden. Die meisten habe man einschläfern müssen, da sie nicht in einer Verfassung gewesen seien, in der man sie an Interessenten hätte abgeben können.
    Was Gerard betraf, so war er offenbar an einer Lungenentzündung gestorben, obwohl es auch Gerüchte über Hantaviren gab, was unserer Gemeinde einen mächtigen Schrecken einjagte, zumal ja eine große Zahl Ratten gar nicht eingefangen worden war. Wir alle fühlten uns natürlich betroffen, ich noch mehr als die anderen. Wenn ich nur den Winter über zu Hause gewesen wäre, dachte ich immer wieder, wenn ich nur beharrt hätte, als ich vor seinem Fenster gestanden und den ekelerregenden Geruch wahrgenommen hatte, dann hätte ich ihn vielleicht retten können. Doch schließlich kehrte ich zu dem Gedanken zurück, dass er irgendeine Charakterschwäche gehabt haben musste, von der keiner etwas geahnt hatte. Herrgott, er hatte sich eine Schlange als Haustier zugelegt, und dieses niedere Tier hatte sich irgendwie in diese Massen von Tieren verwandelt, die man nur als Schädlinge, als Ungeziefer, als Feinde des Menschen bezeichnen konnte, die man

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