Drowning - Tödliches Element (German Edition)
von Neisha erzählen, dem Mädchen, das alles veränderte.
Ich will ihnen von dem Wasser erzählen, wie es ihn holte und wie es versuchte, auch Neisha und mich zu holen. Ich will ihnen von den Geräuschen und Gerüchen, den Bildern und Schmerzen erzählen. Ich will ihnen von den Höhlen in deinem Schädel erzählen, wo eigentlich deine Augen sein sollten, den Malen, die der Schlamm zurücklässt und die nicht wieder verschwinden. Ich will ihnen erzählen, wie es ist, verrückt zu werden, so verrückt, dass du vor einem tropfenden Wasserhahn in Panik gerätst. Ich will ihnen erzählen, dass manchmal die Toten nicht leise verschwinden. Wie jemand, den du liebst, zu dem werden kann, vor dem du am meisten Angst hast.
Ich schaue in ihre Gesichter. Sie kannten Rob nie wirklich. Sie wissen nicht, was passiert ist. Niemand weiß das, nur Rob und Neisha und ich.
Rob ist tot. Neisha ist noch im Krankenhaus.
Ich könnte es ihnen erzählen, alles. Die Wahrheit. Die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Oder ich könnte den Mund halten.
Loslassen. Ihn loslassen.
»Mein Bruder«, höre ich mich sagen und plötzlich bricht meine Stimme. Er hat versucht mich umzubringen, er hat mich gehasst, aber so war es nicht immer. Er war es, der mir den Mund abgewischt hat, wenn ich mich übergeben musste. Er war es, der auf der anderen Seite des Zimmers geschlafen hat, jede Nacht, mit dessen Atem ich einschlief, dessen Gesicht ich sah, wenn ich aufwachte.
»Gute Nacht, Rob.«
Meine Worte hallen in dem Raum und ich strenge mich an, seine Antwort zu hören – Gute Nacht, Cee. Aber sie kommt nicht. Ich stehe da, horche, verloren.
Der Pfarrer fasst mich am Ellbogen und führt mich zu meinem Platz zurück. Die Orgel beginnt zu spielen und der Vorhang gleitet leise um den Sarg.
EPILOG
Drei Monate später
Das erste Licht stiehlt sich durch den Spalt im Vorhang. Wenn ich ein Vampir wäre, könnte der Schmerz nicht schlimmer sein. Es ist der Morgen, vor dem ich mich seit drei Monaten fürchte: der Tag des Umzugs.
Neisha rührt sich im Schlaf, bewegt sich ein bisschen. Ihre Hand verkrampft sich, dann entspannt sie sich an meiner Brust. Ich nehme sie, führe sie an meine Lippen und küsse die Finger, einen nach dem andern.
Sie öffnet die Augen, lächelt.
»Hallo«, flüstert sie.
»Hallo«, antworte ich.
»Wie spät ist es?«
»Kurz nach sechs.«
Sie stöhnt. »Dann verschwinde jetzt besser. Dad wird bald raufkommen.«
»Ich will aber nicht.« Ich halte sie fester.
»Ich weiß.« Sie legt die Arme um meinen Körper und kuschelt sich ein. Wir liegen ungefähr eine Minute lang so da, dann windet sie sich los und setzt sich auf.
»Carl«, sagt sie, »du musst jetzt wirklich verschwinden.«
Ich weiß nicht, wie erwischt zu werden die Situation noch verschlimmern könnte. Schließlich geht sie, zieht hundertfünfzig Kilometer von mir fort. Neuer Job für ihren Dad. Neues Haus, neue Schule, neue Freunde, neues Leben.
»Okay, okay«, sage ich, gleite aus dem Bett und ziehe meine Jeans über die Boxershorts. Neisha bleibt, wo sie ist, und zieht sich die Bettdecke bis unters Kinn. Ich tapse zum Fenster und schaue hinaus. Draußen sieht es aus wie in der Arktis, seit mehr als zwei Wochen herrscht Eiseskälte. Über Nacht muss es noch einmal schweren Frost gegeben haben. Der Himmel ist wolkenlos und die Sonne wird bald aufgehen.
»Komm mit«, sage ich.
»Carl«, antwortet sie. »Du weißt doch, dass ich umziehe. Ich ziehe heute um.«
»Ich weiß. Komm schnell mit, wir machen nur einen Spaziergang. Es ist schön draußen.«
Sie sieht mich an, als ob ich verrückt geworden wäre, dann schüttelt sie die Decke ab, schiebt die Füße aus dem Bett und setzt sie auf den Fußboden. Ihre glatten, toffeefarbenen Beine sind wunderschön. Die leichte Andeutung ihrer weichen Kurven weckt meine Sehnsucht, sie wieder in die Arme zu nehmen, mit ihr ins Bett zurückzufallen und zu versuchen, die Welt außerhalb dieses kleinen Nests aus nichts als ihrem Einzelbett zu vergessen.
»Gib mir mal den Pullover«, flüstert sie und dringt in meine Fantasiewelt ein. Ich tue, worum sie mich bittet, und während sie sich fertig macht, ziehe ich meine restlichen Sachen an. Wir schleichen uns am Zimmer ihres Dads vorbei. Die Wohnung ist still, warm und leer. Kein Krimskrams. Nichts Persönliches. Eine vorübergehende Bleibe, mehr nicht, eine Zuflucht nach der gewaltigen Flut.
Wir ziehen unsere Schuhe an und öffnen leise die Haustür. Die Kälte
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