Gezeiten der Liebe
Prolog
Ethan schüttelte die Traumbilder ab und rollte sich aus dem Bett. Draußen war es noch dunkel, aber das war nichts Ungewöhnliches, denn sein Tagewerk begann stets vor Anbruch der Morgendämmerung. Das Leben, das er führte, gefiel ihm – die Stille, die schlichte Routine, die harte Arbeit, die er Tag für Tag leistete.
Er war zutiefst dankbar, weil er die Wahl gehabt und sich für dieses Leben hatte entscheiden können. Die beiden Menschen, denen er dies verdankte, waren zwar tot, für Ethan war das hübsche Haus am Wasser jedoch immer noch von ihrem Geist erfüllt. Wenn er morgens allein in der Küche frühstückte und den Kopf hob, rechnete er halb damit, daß seine Mutter in der Tür erschien – herzhaft gähnend, die rote Haarmähne vom Schlaf wild zerzaust, die Augen halb geschlossen.
Obgleich sie bereits vor sieben Jahren gestorben war, wärmten und trösteten ihn diese vertrauten Bilder und Gedanken noch immer.
Schmerzlicher war die Erinnerung an den Mann, den er als seinen Vater betrachtet hatte. Knapp drei Monate nach dem Tod von Raymond Quinn war der Kummer einfach noch zu frisch. Ray war unter nach wie vor ungeklärten, rätselhaften Umständen ums Leben gekommen. Der tödliche Autounfall hatte sich auf trockener Fahrbahn ereignet, an einem hellen Tag im März, an dem ein erster Hauch von Frühling in der Luft lag. Augenzeugen gab es keine.
Raymond Quinn war offenbar zu schnell gefahren und hatte in einer Kurve die Kontrolle über den Wagen verloren. Oder er hatte absichtlich das Lenkrad herumgerissen. Tests hatten ergeben, daß keine physische Beeinträchtigung
vorlag, die erklärte, warum er frontal gegen den Telefonmast gerast war.
Doch gab es Hinweise auf emotionale Probleme, die Ethan schwer zu schaffen machten.
Tief in seine Gedanken versunken, trat er im Bad vor den Spiegel. Er zog flüchtig den Kamm durch sein vom Duschen noch feuchtes, von der Sonne aufgehelltes braunes Haar. Die dichten Wellen ließen sich ohnehin kaum bändigen. Dann begann er mit seiner Rasur. Ernste blaue Augen blickten ihm aus dem beschlagenen Spiegel entgegen, als er Schaum und Bartstoppeln von seinem Gesicht kratzte – einem gebräunten, markanten Gesicht, hinter dessen Zügen sich Geheimnisse bargen, die er fast nie mit jemandem teilte.
An seinem Kinn fiel eine helle Narbe auf, ein Andenken an eine Prügelei mit seinem ältesten Bruder. Seine Mutter hatte die Wunde selbst genäht. Wie praktisch, daß sie Ärztin gewesen war, dachte Ethan und fuhr geistesabwesend mit dem Daumen über die Kerbe. Drei Söhne, und mindestens einer mußte immer irgendwie zusammengeflickt werden.
Ray und Stella hatten sie bei sich aufgenommen – drei halbwüchsige Jungen, verschreckt, verwildert, zutiefst mißtrauisch. Und es war ihnen tatsächlich gelungen, sie alle zu einem festen Familienverband zusammenzuschmieden.
Wenige Monate vor seinem Tod hatte Ray dann noch einen vierten Jungen mit nach Hause gebracht.
Seth DeLauter war jetzt einer von ihnen. Daran bestand für Ethan nicht der geringste Zweifel. Für andere schon, wie man hörte. In St. Christopher’s, der Kleinstadt, in der er wohnte, wurde gemunkelt, daß Seth nicht bloß einer von Ray Quinns Streunern sei, sondern sein unehelicher Sohn. Ein Kind, das er noch zu Lebzeiten seiner Frau mit einer anderen gezeugt habe. Einer jüngeren Rivalin.
Bloße Gerüchte konnte Ethan mühelos ignorieren, nicht jedoch die Tatsache, daß der zehnjährige Seth die Augen von Ray Quinn hatte.
Die Schatten, die diese Augen trübten, kannte Ethan. Ein Leidtragender erkannte stets den anderen. Er wußte, daß Seth’ Leben, bevor Ray ihn zu sich geholt hatte, ein Alptraum gewesen war. Er selbst hatte einen ähnlichen Höllentrip hinter sich.
Aber jetzt ist der Kleine ja in Sicherheit, dachte Ethan, als er eine ausgebeulte Baumwollhose und ein verschossenes Arbeitshemd anzog. Jetzt war er ein Quinn, wenn auch noch nicht in streng formaljuristischem Sinn. Darum würde sich Phillip kümmern. Ethan verließ sich darauf, daß sein gewissenhafter Bruder zusammen mit dem Rechtsanwalt alle offenen Fragen klären könnte. Und Cameron, dem ältesten der Quinn-Brüder, war es bereits gelungen, eine emotionale Bindung zu Seth zu knüpfen.
Eine Bindung mit extremen Höhen und Tiefen, dachte Ethan grinsend. So manches Mal erinnerten sie an zwei rivalisierende Kater, die gefährlich fauchend ihre Krallen wetzten, um einander an die Kehle zu gehen. Doch nachdem Cam seine hübsche
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