Drowning - Tödliches Element (German Edition)
strahlender Himmel über mir, als ich an die Oberfläche komme. Zwischen den Wolken ist eine Lücke und die Sonne scheint aufs Wasser. Der Unterschied ist zu heftig. Einen Moment lang bin ich geblendet.
Ich schütze die Augen und schaue nach Neisha. Ich hüpfe herum wie ein Korken, drehe mich um die eigene Achse, damit ich sie finde. Sie muss ganz in der Nähe sein – schließlich ist sie doch direkt vor mir geschwommen. Wo ist sie? Wir sind auf der Rückseite der Häuserreihe und wir sind Teil des angeschwollenen Flusses, werden flussabwärts getrieben. Nur dass es kein »wir« gibt. Ich bin allein. Ich kann Neisha nirgendwo sehen.
Ich höre Rufe vom Rand des Wassers, etwa zwanzig Meter entfernt. Ich schaue auf. Leute zeigen auf mich und winken.
Und dann höre ich sie.
»Ich liebe dich, Carl.«
Ihre Stimme ist ganz nah. Ich drehe mich um, doch ich kann sie nicht sehen.
»Neisha? Neisha!«
»Ich vergebe dir. Ich liebe dich. Auf Wiedersehen.«
Ich spüre ihren Atem im Ohr, rieche einen Hauch von Honig und Vanille. Und dann ist es vorbei.
Mein Hirn arbeitet zu langsam. Vielleicht liegt es an der Kälte. Vielleicht bin ich von Wasser durchtränkt.
Wann hat sie gelernt, so zu schwimmen? Wieso hat sie im Haus nicht nach Luft geschnappt?
Weil es nicht Neisha war.
Es war nur ein Teil von ihr, der Teil, der sich befreit hat, als ihr Körper starb.
Weil sie im Haus, in diesem Zimmer da unten ertrunken ist.
»Nein! Nein, nein, bitte, Gott, nein!«
Es hat keinen Sinn, in dieser breiten, angeschwollenen Wasserflut, die sich ihren Weg durch die Hausdächer sucht, nach ihr zu suchen. Sie ist tot.
Rob hat gewonnen. Ich wollte sie nicht ans Wasser bringen, deshalb hat er das Wasser zu ihr gebracht.
Ich schaue hinter mich. Inzwischen bin ich etwa zehn Meter vom letzten Haus der Reihe entfernt und treibe weiter. Mein Körper hängt tief im Wasser, nach unten gezogen von den Sachen, die ich anhabe. Wozu noch weitermachen? Ich habe meinen Bruder verloren. Ich habe meine Freundin verloren. Ich hatte fast nichts im Leben und jetzt ist überhaupt nichts mehr da.
Das Wasser reißt an mir, zerrt mich nach unten. Mein Mund taucht unter die Oberfläche, dann meine Nase. Es wäre so einfach loszulassen. Wieso tue ich es dann nicht?
Gerade als auch die Ohren untertauchen, höre ich eine Stimme. Diesmal keine Worte, nur ein tiefes, knirschendes Lachen. Rob. Er bedrängt mich nicht länger. Er droht mir nicht mehr. Er hat gewonnen.
Ich war nicht klug oder nicht schnell oder nicht stark genug Neisha zu retten.
Sie hat bekommen, was sie verdient.
Er freut sich hämisch. Ich schließe die Augen, ich will sein Gesicht nicht mehr sehen. Ich will überhaupt nichts mehr sehen.
Irgendetwas landet im Wasser, spritzt an die Stirn. Ich stoße die Hände nach unten, um über den Rand des Wassers zu spähen. Ein großer orangefarbener Plastikring treibt etwa einen Meter von mir entfernt vorbei.
»Greif zu. Greif zu, Junge!«
Leute schreien zu mir herüber. Sie haben mir einen Rettungsring zugeworfen. Mein Instinkt setzt ein, ich schlage mit den Beinen und fasse nach vorn. Es gelingt mir, an einer Seite zuzugreifen.
»Streck die Arme durch, dann ziehen wir dich an Land!«
Ich tauche unter und komme im Innern des Rings wieder hoch. Ein Jubel bricht aus, als ich Kopf und Schultern hindurchschiebe und die Ellbogen auflege. Der Fluss zieht an mir, aber ich bewege mich nicht mehr. Der Ring hängt an einer Schnur und Leute ziehen mich jetzt flussaufwärts. Ich komme wieder näher an die Häuserreihe heran, und als ich mit dem Endhaus auf gleicher Höhe bin, muss ich an Neishas Körper denken, der irgendwo da drinnen gefangen ist, in der Gewalt des Wassers, und ich ertrage es nicht.
Ich habe sie im Stich gelassen, aber zumindest ein Letztes kann ich für sie noch tun. Ich werde sie da rausholen.
Auf den Ring gestützt, winde ich mich aus der Jeans. Ich verschränke die Arme vor dem Körper und halte das T-Shirt an beiden Seiten fest. Dann hebe ich die Arme über den Kopf, ziehe das Shirt aus und gleite aus dem Ring, wieder ins Wasser hinab.
NEUNUNDZWANZIG
Als ich aus dem Ring heraus bin, kämpfe ich gegen die Strömung an. Ich kraule mit den Armen auf die Häuser zu, doch selbst ohne die durchnässte Kleidung ist es ein Kampf. Mein Plan ist, zum Haus zu schwimmen und in der Nähe des kaputten Fensters zu tauchen, aber ich bin so müde. Das Schlimmste ist, dass ich nicht genau weiß, welches Neishas Haus ist. Das Wasser reicht knapp
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