Drucke Zu Lebzeiten
beim Arm fest und sagt: „Du bleibst. Läßt du von deinem Eigensinn nicht ab, so gehe ich hinauf. Erinnere dich an deinen schweren Husten heute nachts. Aber für ein Geschäft und sei es auch ein einge- bildetes, vergißt du Frau und Kind und opferst deine Lungen. Ich gehe." „Dann nenn ihm aber alle Sorten, die wir auf Lager haben; die Preise rufe ich dir nach." „Gut", sagt die Frau und steigt zur Gasse auf. Natürlich sieht sie mich gleich.
„Frau Kohlenhändlerin", rufe ich, „ergebenen Gruß; nur eine Schaufel Kohle; gleich hier in den Kübel; ich führe sie selbst nach Hause; eine Schaufel von der schlechtesten. Ich bezahle sie natürlich voll, aber nicht gleich, nicht gleich." Was für ein Glockenklang sind die zwei Worte „nicht gleich" und wie sinnverwirrend mi- schen sie sich mit dem Abendläuten, das eben vom na- hen Kirchturm zu hören ist.
„Was will er also haben?" ruft der Händler. „Nichts", ruft die Frau zurück, „es ist ja nichts; ich sehe nichts, ich höre nichts; nur sechs Uhr läutet es und wir schließen. Ungeheuer ist die Kälte; morgen werden wir wahr- scheinlich doch viel Arbeit haben."
Sie sieht nichts und hört nichts; aber dennoch löst sie das Schürzenband und versucht mich mit der Schürze fortzuwehen. Leider gelingt es. Alle Vorzüge eines guten Reittieres hat mein Kübel; Widerstandskraft hat er nicht; zu leicht ist er; eine Frauenschürze jagt ihm die Beine vom Boden.
„Du Böse!" rufe ich noch zurück, während sie, zum Geschäft sich wendend, halb verächtlich, halb befriedigt mit der Hand in die Luft schlägt, „du Böse! Um eine Schaufel von der schlechtesten habe ich gebeten und du hast sie mir nicht gegeben." Und damit steige ich in die Regionen der Eisgebirge und verliere mich auf Nimmer- wiedersehn.
Zu dieser Ausgabe
Kafkas Verhältnis zur Veröffentlichung seiner eigenen Texte war zwiespältig und voller Widersprüche. Als sein Freund Max Brod ihn am 29. Juni 92 beim Rowohlt Verlag eingeführt hatte, den zu dieser Zeit noch Ernst Rowohlt und Kurt Wolff gemeinsam leiteten, schrieb Kafka am 4. August 92 mit Bezug auf die Publika- tionszusage für den Band ‚Betrachtung' an den Verleger: „Hier lege ich Ihnen die kleine Prosa vor, die Sie zu sehen wünschen … Während ich sie für diesen Zweck zusammenstellte, hatte ich manchmal die Wahl zwischen der Beruhigung meines Verantwortungsgefühls und der Gier, unter Ihren schönen Büchern auch ein Buch zu haben … Jetzt aber wäre ich natürlich glücklich, wenn Ihnen die Sachen auch nur soweit gefielen, daß Sie sie druckten."
Immer wieder, bis zu dem ‚Landarzt'-Band von 99, wird Franz Kafka seine Freude über die vom Verlag für ,Betrachtung' gewählte große, schöne Schrift und die gepflegte, um nicht zu sagen luxuriöse Ausstattung zu erkennen geben, so wie zuvor bereits über „Englisch Velin" oder „Kaiserlich Japan" der Zeitschrift ‚Hype- rion', in der sein allererster Druck vorlag. Seine Texte brauchten, heißt es in einem Brief, um sich entfalten zu können, „ganz freien Raum um sich" (am 9. 8. 96 an den Kurt Wolff Verlag). Andererseits dann aber die Ver- senkung in den aller Welt entrückten Schreibakt: Man weiß von Kafkas eingezogenem und selbstvergessenem nächtlichen Schreiben, das nichts ist als Hingabe und Verströmen. „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständi- gen Öffnung des Leibes und der Seele", versichert Kafka sich selbst in der auf die Niederschrift des ‚Urteils' folgenden Tagebucheintragung vom 23. September 92. Wenige Monate zuvor schon, am 3. Januar, hatte er notiert: „Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkei- ten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachden- kens der Musik zu allererst richteten. Ich magerte nach allen diesen Richtungen ab."
Und noch kurz vor seinem Tod wird er an den jungen Medizinstudenten Robert Klopstock schreiben (in ei- nem Brief vom Ende März 923): „… und dieses Schrei- ben ist mir in einer für jeden Menschen um mich grau- samsten … Weise das Wichtigste auf Erden, wie etwa einem Irrsinnigen sein Wahn … oder wie einer Frau ihre Schwangerschaft."
Zwischen Öffnung und Selbstversenkung, zwischen der Lust an der Schrift, die vor der
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