Drucke Zu Lebzeiten
denn auch keinen der Romantexte für die Publikation vorsieht), und solchem Schreiben dann das Glücken ei- nes Schöpfungsaugenblicks (die Nacht des ‚Urteils') ent- gegenstellt: als den „Durchbruch" zur Literatur. Aber zuletzt sind es wohl doch die Eigentümlichkeiten des zwischen Äußerungslust und mystischer Versenkung spielenden Schreibprozesses selbst, die auf das Publi- kationsgebaren Kafkas einwirken. So werden aus dem Schreibstrom, dem er sich in nächtlicher Arbeit anver- traut, unverhofft einzelne, oft winzige Partikel ausgeho- ben und zögernd, geradezu eifersüchtig der Öffentlich- keit zugestellt: Miniaturen, manchmal nur ein einziger Satz, aus dem umfangreichen Manuskript der ‚Beschrei- bung eines Kampfes' zum Beispiel; dann die sogenannte ,Prozeß'-Parabel aus dem großen Konvolut des Roman- fragments; das ‚Heizer'-Kapitel aus dem unvollendeten Roman ‚Der Verschollene'; und dann, in einem faszinie- renden Vorgang des Ans-Licht-Bringens und des gleich- zeitigen Ausstreichens, die Verwandlung des sich ver- knäuelnden Schreibstroms der sogenannten „Oktav- hefte" in die Erzählungen des Sammelbandes ‚Ein Land- arzt': die Gestaltwerdung und Reifung des ‚Berichts für eine Akademie' zu einem „Werk", aus einer Kette von Varianten „entbunden"; und, demgegenüber, die Aus- merzung so vollkommener Stücke wie ‚Das Schweigen der Sirenen' und ‚Prometheus', die, von Kafka gestri- chen, erst durch Brods Publikation und nachträgliche Titelgebung zu „Werken" der Literatur, ja zu Schlüssel- texten seiner Wirkung wurden.
Das Spiel von Verkettung, Verwerfung und Textisola- tion, das die Manuskripte spielen, setzt sich fort, wenn Kafka sich schließlich doch zur Publikation entschlossen hat. So nimmt er sich vor, ‚Heizer', ‚Urteil' und ‚Ver- wandlung' unter dem Titel ‚Die Söhne' zu einem Band von Erzählungen zu vereinen, verwirft diesen Plan und erprobt für einen neuen, seinerseits flüchtigen Augen- blick die Zusammenstellung von ‚Urteil', ‚Verwandlung' und ‚In der Strafkolonie' zu einem Sammelband ‚Stra- fen'. So erwägt er in seinen Aufzeichnungen nicht weni- ger als fünf verschiedene Kombinationen und Konfigu- rationen der für den Sammelband ‚Ein Landarzt' vorge- sehenen Texte. Und es gibt Fälle, wo Kafka zunächst ein Textstück – ‚Schakale und Araber' – aus dem Manu- skript herauslöst und zusammen mit einem zweiten, als Diptychon, zum Druck bringt, denselben Text sodann einzeln publiziert, um ihn alsbald, mit mehreren ande- ren, zu einem Sammelband zu vereinigen, diesen Sam- melband teilweise wieder in Einzeldrucke auflöst und schließlich in seinem „Testament" die Bestimmung er- läßt, daß auch die gedruckten Texte nicht wieder aufge- legt werden dürften, also dem Prinzip des „verscholle- nen" Textes zu überantworten sind.
Kafkas Weltgeltung ist freilich nicht durch die von ihm selbst veröffentlichten Texte begründet worden, sondern durch seine Romane, die Max Brod aus dem Nachlaß als gleichsam vollendete „Werke" zu publizie- ren wußte, eben dadurch aber den „Romancier" Kafka und seine unabsehbaren Wirkungen allererst erschaf- fend. Erst durch die Nachlaßedition der Kritischen Kafka-Ausgabe, die doppelte, gleichsam synoptische Darbietung des Schreibstroms der Manuskripte einer- seits, der aus diesem zu Werk und Werkgruppe gestalte- ten Veröffentlichungen andererseits ist dieses span- nungsvolle Bild der Autorpersönlichkeit Kafka sichtbar geworden: die Wahrnehmung seiner Texte im doppelten Aggregatzustand von Schreibfluß und Vollendung, als das Strömen der Schrift in den Manuskripten, die der Öffentlichkeit verhehlt blieben, und die zu vollkomme- nen Werken verdichteten Publikationen, die im Namen Kafkas, des Autors, vor die Öffentlichkeit traten.
Gerhard Neumann
Textgrundlage dieses Bandes sind folgende Drucke:
Betrachtung. Leipzig: Ernst Rowohlt 93 [92].
Das Urteil. Eine Geschichte. (2. Auflage) München: Kurt Wolff 920.
Der Heizer. Ein Fragment. Zweite Auflage, Leipzig: Kurt Wolff 96.
Die Verwandlung. (2. Auflage) Leipzig: Kurt Wolff 98. In der Strafkolonie. Leipzig: Kurt Wolff 99.
Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. München und Leipzig: Kurt Wolff 99 [2. Mai 920 erschienen].
Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten. Berlin: Verlag Die Schmiede 924.
Ein Damenbrevier. In: Der neue Weg. Hrsg. von der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger. 38. Jg. Berlin
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