Drucke Zu Lebzeiten
Welt erscheint, und der fast bewußtlosen Hingabe an die über das Papier gleitende Hand wird alle Zwiespältigkeit von Kafkas „Zögern vor der Geburt" (Tagebucheintragung vom 24. . 922) des Textes wahrnehmbar. Da gibt es das freudige Vorlesen des eben Geschriebenen im engsten Kreis der Schwestern (wie am Morgen nach der Entste- hungsnacht des ‚Urteils'); da gibt es den Vortrag neuer Texte im Zirkel der Freunde, begleitet vom Lachen des Vorlesenden, so daß dieser, wie Brod berichtet, „weil- chenweise nicht weiterlesen konnte"; aber da gibt es auch die Lesung vor geladenen Hörern, wie im Fall des ,Urteils' in der Herder-Vereinigung zu Prag am 4. De- zember 92 oder der ‚Strafkolonie' im Kunstsalon Goltz in München am 0. November 96. Und es gibt schließlich die ausdrückliche Markierung des gedruckten Textes „nach außen", als ein „Geleiten" in die Welt der Öffentlichkeit: durch die Widmungen, gleichsam die Er- schaffung des Adressaten als Rechtfertigungsgrund des publizierten Textes: so die Zueignung der ‚Betrachtung' (92) an den Freund Max Brod, des ‚Urteils' (93) an die Verlobte Felice Bauer, des ‚Landarzt'-Bandes (99) an den Vater Hermann Kafka. Erst der letzte Erzählun- genband Kafkas, ‚Ein Hungerkünstler' (924), dessen Korrekturfahnen er noch liest, dessen Erscheinen er aber nicht mehr erlebt, wird ohne Widmung bleiben, allein aus der freien Verantwortung des Autors ans Licht der Öffentlichkeit treten.
Kafkas Werk muß im Zeichen solchen Zögerns zwi- schen Verhehlung und Publikation des Geschriebenen gelesen werden. Dieser ambivalente Gestus gehört zum Wesen seines Schreibens wie seines Verhältnisses zur Welt. So könnte man auch sagen: Das zu Lebzeiten Kafkas Veröffentlichte bildet nur die Spitze eines Eis- berges, ein Fünftel nur dessen, was nach dem Willen des Autors der Nachwelt ohnehin vorzuenthalten war. In seinen „Testamenten" hatte er Max Brod, dem Freund und Verwalter des Nachlasses, die Vernichtung des Unpublizierten und das der Vergessenheit Überant- worten des Publizierten zugemutet; hatte ihm, dem Autor und Freund, die Wahl zwischen der Rolle des Judas oder des Johannes überlassen. Er forderte von ihm (im „Testament" vom 29. . 922), alles, was sich in seinem Nachlaß fände, „ausnahmslos am liebsten un- gelesen" zu verbrennen: „Von allem, was ich geschrie- ben habe gelten nur die Bücher: Urteil, Heizer, Ver- wandlung, Strafkolonie, Landarzt und die Erzählung: Hungerkünstler … Wenn ich sage, daß jene 5 Bücher und die Erzählung gelten, so meine ich damit nicht, daß ich den Wunsch habe, sie mögen neu gedruckt und künftigen Zeiten überliefert werden, im Gegenteil, soll- ten sie ganz verloren gehn, entspricht dieses meinem eigentlichen Wunsch. Nur hindere ich, da sie schon ein- mal da sind, niemanden daran, sie zu erhalten, wenn er dazu Lust hat."
Fast war es jenes in der ‚Sorge des Hausvaters' ent- fachte Spiel zwischen dem Sorgenkind Odradek und dem Hausvater, der diesem seine Identität zu entlocken sucht, das Kafka und Max Brod, das aber auch Kafka und seine Verleger, ja das Kafka und die literarische Öf- fentlichkeit selbst spielten: die Verleger Rowohlt und Wolff zuerst, wo der Autor, kaum war ihm die Druck- zusage abgerungen, diese gleich wieder „ungeschehen" zu machen hoffte (Tagebucheintragung vom 20. 8. 92); dann, nachdem Rowohlt den Verlag verlassen hatte, Wolff allein, der immer wieder Werbebriefe schrieb, um seinem Autor ein Stück Text abzulocken, und dem Kafka (trotz des Bemühens der Verlage Reiß und Cassirer) die Treue hielt – bis zu dem letzten Erzäh- lungenband, der im Verlag Die Schmiede in Berlin er- schien. Eine Schlüsselrolle für die Publikation von Kaf- kas Texten spielte Kurt Wolffs erfolgreiche Buchreihe ,Der jüngste Tag', in der fast alle wichtigen Autoren des Expressionismus ihre Texte veröffentlichten, und in der ,Der Heizer', ‚Das Urteil' und ‚Die Verwandlung' (zum Teil in wiederholten Auflagen) erschienen.
Kafkas Publikationspraxis erwächst, so könnte man sagen, aus der Besonderheit dieser zwiespältig besetzten, geradezu von einer Doppelbindung beherrschten Pro- duktionssituation. Manchmal scheint es, als sei Kafkas Schreiben und Wertvorstellung durch Gattungskonzepte gesteuert; so wenn er im Zusammenhang mit seinen Romanen am 23. September 92 im Tagebuch von den „Niederungen des Schreibens" spricht (und demgemäß
Weitere Kostenlose Bücher