Druidenherz
hoffte, in der Nähe von London eine Arbeit zu finden. Zwar wollte sie aus Tante Mables Haus ausziehen, sobald sie eigenes Geld verdiente, aber es wäre dennoch schön, weiterhin in ihrer Nähe zu sein. Tante Mable hatte zwar nichts dazu gesagt, doch Imogen wusste, dass sie sie nur ungern gehen lassen würde. Schließlich hatten sie doch nur noch einander. Und irgendwann würde ihre Tante nicht mehr so mobil sein und wäre auf Hilfe angewiesen. Aber daran wollte Imogen noch gar nicht denken.
Ihre Kamera hatte sie dummerweise im Hotelzimmer vergessen, doch vor ihr lagen ja noch zwanzig lange Tage in Schottland. Genügend Gelegenheiten also, schöne Fotos zu machen und sie Tante Mable zu zeigen. Außerdem besaß auch ihr Handy eine Kamera. Für ganz außergewöhnliche Motive würde sie schon genügen. Solche allerdings hatte sie bisher nicht gefunden. Piktensteine wie jener vor ihr waren auf unzähligen Postkarten schöner abgebildet, ebenso die im Sonnenlicht liegenden Hügel.
Imogen richtete sich auf, beschattete die Augen mit der Hand und ging weiter. Ein Schäfer mit seiner Herde und mehreren Hütehunden zog vorbei und grüßte freundlich. Er sah aus wie aus dem Bilderbuch, denn er trug einen zurechtgeschnitzten Ast in der Hand, mit dem er sich bei Steigungen behalf, hatte eine Mütze auf dem Kopf und einen von vielen grauen Strähnen durchzogenen rotbraunen Bart, der nur wenig von seinem wettergegerbten Gesicht erkennen ließ.
Imogen erwiderte den Gruß. So allein wie gedacht war sie hier also doch nicht. Das war schon beruhigend, und außerdem war es natürlich schön, einen Einheimischen zu treffen. Schade nur, dass er weitergezogen war. Sie hätte gern ein paar Worte mit ihm gewechselt, ihn gefragt, wie es für ihn war, Tag für Tag mit seinen Schafen durch die Highlands zu ziehen.
Imogen stärkte sich mit einem Schokokeks und nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Um nicht immer wieder in Dörfern haltmachen zu müssen, hatte sie sich ein wenig Proviant eingepackt. In den Highlands selbst gab es keine Imbissbuden, und oftmals war nicht einmal die nächste Siedlung zu erkennen. Doch Imogen fühlte sich nicht einsam, im Gegenteil – sie genoss es, ohne den Lärm von Autos, Bussen und Touristen durch die Landschaft zu wandern.
Nun ging es wieder hügelabwärts. Imogen bemerkte eine flirrende Stelle einige Meter vor sich und ging darauf zu. Was war es, worin sich dort das Sonnenlicht fing? Das Gras sah genauso aus wie an anderen Stellen. Reflektierte dort vielleicht etwas? Hoffentlich bekam sie keinen Migräneanfall – die kündigten sich oft mit einem Flimmern vor den Augen an. Sie wandte den Kopf und fixierte einen anderen Punkt. Dort sah sie alles klar vor sich, frisches grünes Gras, von der Sonne angestrahlt.
Langsam wandte sie den Kopf und sah auf das flimmernde Stück zurück. Es lag in einer Senke – vielleicht lag es daran. Luftspiegelungen gab es doch in der Natur immer wieder – zumindest klingelte da in ihrem Kopf eine Erinnerung an den Biologieunterricht. An die genaue Ursache konnte sie sich zwar nicht mehr entsinnen, doch das war nicht schlimm. Die Schule lag für alle Zeiten hinter ihr, genau wie alle Prüfungen. Außerdem war ihr Fachgebiet Geschichte.
Plötzlich schien es Imogen, als würde eine Art Energie von der flirrenden Stelle abstrahlen. Das Flimmern wurde stärker, glich nun einem Wirbel und besaß einen Durchmesser von etwa einem Meter. War das wirklich eine Luftspiegelung, verursacht durch Sonnenlicht, das auf – ja, was? – traf? Imogen war das Ganze ein bisschen unheimlich, gleichzeitig wuchs aber ihre Neugier, und sie trat einen Schritt näher. Konnte es gefährlich sein? Schließlich würde doch niemand etwas mit Starkstrom mitten in die Highlands setzen. Sie blickte sich um, konnte aber weit und breit niemanden entdecken. Also hatte das Flirren wohl eine natürliche Ursache, bloß ließ sich diese absolut nicht erkennen. Das Sonnenlicht reflektierte irgendwo, zumindest nahm Imogen das an.
Die Haut an ihren Armen kribbelte. Unwillkürlich schaute sie hin, aber da war nichts, keine rote Stelle und nicht einmal eine glänzende, denn die Sonnenschutzcreme war längst eingezogen und ihre Haut hell wie immer. Doch das Gefühl blieb. Es war, als läge eine ganz leichte Stromspannung um sie herum in der Luft. Die feinen blonden Härchen an ihren Armen stellten sich auf. Auch die Luft schien sich zu verändern, nicht so, wie sie es von Gewittern kannte, wenn man die
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